Letzte Diskussionen, letzte Überzeugungsversuche, letzte Appelle an die Stimmbürger. Wochenlang war David Kirkham im Norden Englands im Abstimmungskampf. Er musste sich auch ab und zu als EU-Befürworter beschimpfen lassen.
Schock für beide Lager
Seit dem Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox ist der Abstimmungskampf zu Kirkhams Erleichterung etwas friedlicher geworden: «Der Mord hat alle zur Besinnung gebracht. Die ganz bösen und geschmacklosen Aussagen sind verschwunden», sagt Kirkham. Die Rhetorik der extremsten Austrittsbefürworter sei schockierend gewesen. In den letzten Tagen sei im Abstimmungskampf immerhin die Freundlichkeit zurückgekehrt.
Auch für die Brexit-Befürworter sei der Mord an Cox ein Schock gewesen, betont Oliver Coulsen. Er ist Kampagnen-Leiter von «Vote Leave» in der nordenglischen Grafschaft Cumbria. Auch für ihn wurde es zum Schluss der Kampagne viel gesitteter. Manchmal habe er sich wie an einer Schlägerei gefühlt: «Wir hätten damit früher aufhören sollen, und nicht erst, als in dieser aufgehetzten Stimmung eine beliebte Abgeordnete zu Tode kam», sagt Coulsen. Er sei sicher, dass der Mord Grossbritanniens Politik verändere.
«Britain divided»
Doch ganz friedlich blieb es nicht. So wurde in Carlisle, Grafschaft Cumbria, bei einem handfesten Brexit-Streit im Pub ein Mann erheblich verletzt. Und auch am Dienstagabend sparten die Politiker bei der grossen TV-Debatte nicht mit Beleidigungen. Diese Spannungen zeigen, wie die EU-Frage das Land gespalten hat – «Britain divided» schrieben die Zeitungen: Schotten gegen Engländer, Konservative gegen Konservative, Linke gegen Linke, Streit in vielen Familien.
Das sei nur vorübergehend, beruhigt der Unterhausabgeordnete Richard Arkless von der SNP, den schottischen Nationalisten. Vielleicht sei es laut zu- und hergegangen, aber schliesslich sei es ja auch eine wichtige Frage.
Und Arkless unterstreicht: «Ich werde misstrauisch, wenn jemand die Spaltung des Landes beklagt. Wir haben einfach unterschiedliche politische Ansichten. Das Gift der Debatte wird nicht bleiben. Wir sind eine reife Demokratie, und die vier Nationen, die das Vereinigte Königreich ausmachen, werden wieder zusammenfinden, was immer das Resultat ist, und vorwärtsschauen.»
Schottische Nationalisten in Warteposition
Der konservative Abgeordnete John Stevenson pflichtet Arkless bei, zumal der Streit um die EU ja nichts Neues sei: «Um die EU wird jetzt seit 40 Jahren gestritten. Aber wir sind eine robuste, lebendige Demokratie. Die Leute werden entscheiden, am Freitag werden wir es wissen und der Premierminister wird dann seine Schlüsse ziehen und im Sinne der Bevölkerung des Vereinigten Königreiches seine Entscheidungen treffen.»
Allerdings bleibt eine grosse Unsicherheit. Wenn zum Beispiel Schottland bei der EU bleiben möchte, aber der Rest des Königreiches sich für den Austritt entschiede. «Das gäbe vermutlich eine Verfassungskrise, denn es wäre gut möglich, dass die Schotten diesen Weg nicht gehen möchten und eine neue Abstimmung über die Unabhängigkeit verlangen», sagt Arkless. Die SNP werde dies natürlich hören und entsprechend reagieren. Aber das liege dann ganz in den Händen des souveränen schottischen Volkes.
Laut letzten Umfragen werden über 60 Prozent der Schotten für den Verbleib in der EU stimmen. Ebenso wird in Wales ein Bekenntnis zur EU erwartet. Doch in Nordirland und England wird es äusserst knapp. Gut möglich also, dass eine Region überstimmt wird und das Zerbrechen des Vereinigten Königreiches wieder zum Thema wird.