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Wladimir Putin steht allein im Anzug vor mehreren Reihen hoher Militärs und einigen Politikern.
Legende: Putin habe sich seinen Rückzug selbst verbaut, meint Ryklin, ein Beobachter seiner Politik. Reuters

International Ist Putin ein Opfer seiner eigenen Macht?

Russlands Signale sind widersprüchlich. An einem Tag klingt es aus Moskau nach Entspannung, am nächsten kommt möglicherweise die nächste Drohung. Der russische Philosoph Michail Ryklin ist ein genauer Beobachter der russischen Politik. Putins Vorgehen sei reine Selbsterhaltung, sagt er.

Der Mann hat Temperament, daran besteht kein Zweifel. Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, manchmal so schnell, dass der nächste Satz schon folgt, bevor der vorherige fertig ist. Der russische Philosoph Michail Ryklin ist ein leidenschaftlicher Mensch – und ein analytischer. Wladimir Putin stecke in der Klemme, sagt er.

«Er weiss nicht weiter. Ein Zurück gibt es nicht. Wenn er zurückweicht, verliert er seine Popularität, dann hassen sie ihn. Denn er hat in Russland die imperiale Ekstase geweckt.» Die Ideologen des Imperiums und auch viele Militärs würden ihn drängen, vorwärts zu gehen, ja nicht haltzumachen, so Ryklin.

Zur Person

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Michail Ryklin, lächelnd mit hochgestellten Kragen in einer Menschenmenge.
Legende: Reuters

Michail Kusmitsch Ryklin ist ein russischer Autor und Professor für Philosophie. Sein 2006 erschienenes Buch «Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der ‹gelenkten Demokratie›» wurde 2007 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Ryklin lebt in Moskau und Berlin.

Angst vor Sanktionen gegen die Industrie

Ihnen genüge die Krim nicht. Russland müsse eine Achse schaffen. Das heisst, dass Moskau einen Teil des ukrainischen Festlandes an sich reissen und sich mit Transnistrien vereinigen müsste. «Doch Putin weiss, dass der nächste Schritt ein gefährlicher ist, denn er bedeutet Sanktionen gegen die Industrie.» Die würden Russland starken Schaden zufügen, weiss der Philosoph.

Deshalb schwanke Putin: «Er hat Angst, er hat sich noch nicht entschieden.» Ryklin ist überzeugt, dass der russische Präsident kein Ideologe, sondern ein Pragmatiker ist. Er habe die verschiedenen Ideologien stets für seine Zwecke benutzt: «Den Liberalismus, den russisch-orthodoxen Glauben, und nun die Ideologie eines eurasischen Imperiums.»

Putins Popularität basierte früher auf dem stetig wachsenden Wohlstand. Doch das sei vorbei, sagt Ryklin. Die russische Wirtschaft sei im Krebsgang, und das ganze System sei so korrupt, dass es sogar begonnen habe, die Öleinnahmen zu verschlingen, erklärt Ryklin. «Dafür verantwortlich gemacht werden Putin und sein System. Denn Putin führt ja das Land faktisch seit 15 Jahren.»

Volk auf gemeinsamen Feind eingeschworen

Deshalb habe sich Putin für eine Zuspitzung der Lage entschieden. Das sei eine gängige Methode autoritärer Führer, wenn Schwierigkeiten auftauchten. Dann müsse ein Feind her, so der Philosoph. «Wenn ein äusserer Feind auftaucht, dann kann man dem Volk einfacher klar machen, dass es den Gürtel enger schnallen muss. Wir, die Regierung, wir können ja nichts dafür, alle haben sich gegen uns verschworen, die Amerikaner, die Europäer. Wir sind nicht schuld.» Das sei eine grosse Verlockung.

Und deshalb setzte Putin auf den Imperialismus, sagt Ryklin. Mit Erfolg: Seine Popularität sei stark gestiegen. Russland habe eine lange imperiale Tradition – und Putin habe diese Tradition wieder belebt – und mit dem Volk einen imperialen Vertrag geschlossen. Doch das Volk so zu begeistern, sei ein grosser Fehler gewesen, betont Ryklin. Denn nun könne er nicht mehr zurück.

Eine weitere Gefahr sieht Ryklin in den russischen Milizen in der Ostukraine: Wenn Putin deren Ruf nach einem militärischen Eingreifen Russlands nicht bald erhöre, kehrten sie desillusioniert und wütend nach Russland zurück – samt ihrem Kriegsgerät. Das könnte Russland stark destabilisieren.

Putin kann nur noch an der Macht bleiben

Doch das Wichtigste sei, so Ryklin, dass Putin sich mit allen Mitteln an der Macht halten müsse. «Er hat nur noch ein einziges Ziel. Politisch zu überleben, ja, überhaupt zu überleben. Das Leben und die Macht sind bei Putin eins geworden. Wenn er die Macht verliert, dann verliert er alles.»

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Dessen sei man sich im Westen und auch in Russland viel zu wenig bewusst: Putin könne gar nicht abtreten, er könne nirgendwohin – auch wenn er das wollte. Er habe zu viele Leichen im Keller. Und er habe viele Feinde, weiss Ryklin: «In Tschetschenien zum Beispiel sind Hunderttausende seine persönlichen Feinde. Weil er für den Tod ihrer Nächsten verantwortlich ist.»

Man müsse die Lage von Putin verstehen, sagt der russische Philosoph schliesslich in seinem lichtdurchfluteten Studierzimmer in Berlin, seiner zweiten Heimat. Und dabei schimmert schon fast etwas wie Mitleid durch – Mitleid für eine Figur, die letztlich etwas Tragisches hat. «Mich überrascht es gar nicht, dass sich Putin an die Macht klammert und bis zum Äussersten durchhalten wird. Das ist die Tragödie Russlands. Es ist schrecklich. Aber ich kann ihn verstehen.»

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