SRF: Was sagen Experten zum Risiko von Anschlägen in Italien?
Rolf Pellegrini: Die Sicherheitsdienste verhehlen ihre Besorgnis nicht. Sie warnen unter der Hand, ein Hauptproblem sei die enorme Immigrationswelle aus Libyen. Seit Anfang Jahr ist sie um 60 Prozent angestiegen, verglichen mit der gleichen Zeitspanne 2014.
Ernst genommen werden auch die ausdrücklichen Warnungen der IS-Extremisten. ‹Wir stehen vor eurer Haustür›, sagen sie. Klar ist, dass der IS in Rom, im Vatikan mit Terrorakten an diesen Symbolstätten westlich-christlicher Kultur einen grossen Effekt erzielen könnte.
Das wissen die Italiener und haben Angst. Dies umso mehr, als viele darüber im Klaren sind, dass ihr Land vielleicht nicht über alle militärischen und polizeilichen Mittel verfügt, um Terrorakte verhindern zu können. Die militärischen Ausgaben wurden in den letzten Jahren stark gekürzt. Polizisten gibt es zwar in Italien sehr viele, aber die Koordination der verschiedenen Polizeicorps ist nicht über jeden Zweifel erhaben.
Hat Italien die Lage unter Kontrolle?
Italien betrachtet sich als Durchgangsland, und nicht als Aufnahmeland. Italien hat die Immigration nicht im Griff. Es gibt viel zu wenig Plätze in den Empfangszentren. Nur ein Drittel der ungefähr 170‘000 Menschen, die im letzten Jahr übers Meer Italien erreichten, blieben über mehrere Wochen in den Durchganszentren. Die anderen verschwanden, sie wurden oft von privaten Hilfswerken betreut.
60‘000 Menschen sollen in Italien geblieben sein, sagt die Caritas. Wie viele ausgewiesen und zurückgeschafft wurden, weiss man nicht. Dass viele nicht registriert wurden, das hingegen weiss man. Die Zahl illegaler, nicht registrierter Ausländer in Italien ist jedenfalls sehr hoch und das könnte in Zeiten des Terrorismus sehr gefährlich sein.
Demnach ist Italien mit der Immigration überfordert?
Italien weist immer daraufhin, dass es eine EU-gemeinsame Planung und Aufnahmepolitik in der Praxis nicht gebe. Dass die Regel, dass das erste Ankommensland für temporäre Aufnahmen für Asyl oder Rückweisungen zuständig ist, unerfüllbar sei angesichts der Anzahl Menschen. Rom betont auch, zur Selbstrechtfertigung, dass es mit seinen Rettungsaktionen auf hoher See mehr leiste als alle andern.
Gibt es darüber in Italien eine politische Debatte?
Die italienische Rechte sagt, je mehr Flüchtlinge darauf zählen können, gerettet zu werden, umso mehr würden versuchen, Europa zu erreichen und desto brutaler würden die Menschenhändler agieren. Die Anderen finden diese Haltung barbarisch. Sie sei ein Verrat an den humanitären Idealen Europas und sie stehe im Gegensatz zu allen geltenden Menschenrechten.
Militärstrategen wiederum betonen, die am meisten Erfolg versprechende Intervention wäre eine Bombardierung und Versenkung der geankerten Schlepperboote vor der Küste Libyens. Das würde die Profitmöglichkeiten der Menschenhändler und der IS-Terroristen, die sich auch am äusserst lukrativen Schleppergeschäft beteiligen wollen, stark beschneiden und ausserdem die Migration drastisch beschränken.
Zum Thema:
Wie würde sich Italien an so einer Operation beteiligen?
Italien würde im Rahmen einer von der UNO abgesegneten Operation mitmachen. Die Regierung tönt an, sie würde gar in einer sehr wichtigen Rolle mitspielen, weil Italien ja die Ex-Kolonie gut kennt und auch wirtschaftliche Interessen hatte.
Würde die italienische Bevölkerung einer solchen Operation zustimmen?
Ich denke nicht. Es gibt in Italien eine starke pazifistische Tradition, vor allem auf der linken Seite und bei den Kirchen. Dazu kommt, dass viele die Warnungen ernst nehmen, die besagen, die Beteiligung an einer militärischen Operation würde die Risiken des Terrorismus in Italien nur noch verstärken.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.