Die Regeln der EU sind klar und die Fakten ebenso: Frankreich darf neue Schulden machen; doch Frankreich macht immer noch zu viele Schulden. Deshalb sagt Guntram Wolff, Direktor des renommierten Brüsseler Think Tank Bruegel: «Es wäre sicherlich die Grundlage da – wenn man wollte – relativ harsch zu reagieren und zu sagen: Nein, das hat Nachbesserungsbedarf.» Laut den EU-Regeln darf das Defizit maximal 3 Prozent betragen.
Rezession nicht verschlimmern
Wenn die EU also wollte, könnte sie das französische Budget zurückweisen und Frankreich zu weiteren drastischen Sparschritten zwingen. Entscheidend werde die Haltung Deutschlands sein, des wichtigsten Akteurs in der EU, sagt Wolff. Er glaubt allerdings nicht, dass Deutschland eine harte Linie verfolge und einen ernsthaften Streit mit Frankreich riskieren wird.
Denn man wolle wohl verhindern, dass eines der wichtigsten Länder der EU mitten in der Rezession noch stärker sparen müsse und die Rezession nochmals verschlimmere. «Es ist eher eine politische Diskussion, die jetzt stattfindet.» Man müsse den besten Weg finden, um aus der Zwickmühle herauszukommen.
Frankreich braucht dringend Reformen
Wolff ist auch Mitglied des Beratergremiums des französischen Premierministers Valls. Der Direktor des Think Tank sieht das Hauptproblem nicht im französischen Defizit, sondern darin, dass Frankreich in den letzten Jahren praktisch keine Reformen ergriffen habe.
Das Land habe so im Vergleich zu Deutschland dramatisch an Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst. Hier sei nun anzusetzen. Und die EU-Kommission werde bei der Einschätzung des französischen Defizits umso gnädiger sein, je stärker Paris nun tatsächlich strukturelle Reformen in Angriff nehme.
Frankreichs Hauptprobleme: Die französischen Produkte sind zu teuer und der Arbeitsmarkt ist zu unflexibel. Also müssen die Lohnkosten gesenkt und der Arbeitsmarkt flexibilisiert werden. Mit Reformen soll die Wirtschaft angekurbelt werden, als Folge würden die Steuereinnahmen zunehmen und das Staatsdefizit sinken.
Auch Deutschland muss mitmachen
Doch der Plan hat einen Haken. Er funktioniert nämlich nur, wenn auch Deutschland mitmacht. Deutschland muss Frankreich entgegenkommen, die Löhne erhöhen, die Kaufkraft stärken und damit den Konsum und auch den Import von französischen Produkten ankurbeln. Wolff nennt dies das «fundamentale Koordinierungs-Problem» zwischen den beiden grössten Ländern der Währungsunion.
Sowohl Deutschland als auch Frankreich müssten mitmachen und sich anpassen. «Wenn nur ein Land sich anpasst ist das weder politisch tragfähig noch wirtschaftlich sinnvoll.» Tatsächlich haben letzte Woche der französische und der deutsche Wirtschaftsminister zwei Experten – dem Deutschen Henrik Enderlein und dem Franzosen Jean Pisani – den Auftrag erteilt, gemeinsam für beide Länder bis Mitte November Vorschläge für Strukturreformen auszuarbeiten.
Wolff kennt beide Experten bestens: Mit Enderlein hat er zusammen publiziert und Pisani ist sein Vorgänger beim Think Tank Bruegel. Wolff begrüsst diese Arbeitsgruppe ausdrücklich. Trotzdem ist er skeptisch, dass Deutschland bereit ist für die erforderlichen Schritte: «Das Bewusstsein dafür ist in Deutschland nicht vorhanden», sagt er.
Deutschland zögert noch
Zwar werde der Zusammenhang langsam erkannt. Doch: «Der Paradigmenwechsel wird erst kommen, wenn die wirtschaftliche Situation massiv schlechter wird.» Erst wenn Deutschland also selber in eine ernsthafte Krise schlittert, dürfte auch Deutschland in gesamteuropäischen Zusammenhängen zu denken beginnen, glaubt Wolff.
Zur Ankurbelung der Wirtschaft und damit zu gesünderen Staatsfinanzen bräuchte es neben den Reformmassnahmen allerdings noch einen weiteren Pfeiler: Ein substantielles Investitionsprogramm für Europa. Der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat ein 300-Milliarden-Programm angekündigt.
Auch Europa zu zögerlich beim Investitionsprogramm
Das sei dringend notwendig, findet auch Wolff. Doch ist der Direktor des Think Tanks Bruegel auf Grund der bisherigen Diskussionen auch hier besorgt: «Noch sträuben sich viele Hauptstädte, dafür Geld zur Verfügung zu stellen.»
Auch die Europäische Investitionsbank sei nicht bereit, ihr Risiko signifikant zu erhöhen. «Ich denke, das ist ein grosser Fehler.» Er glaube deshalb nicht, dass die 300 Milliarden erreicht werden. «Das ist eine schlechte Botschaft für die europäische Konjunktur und für die europäischen Bürger», so Wolff.
So wird Frankreich am Ende das Defizit wohl noch etwas verkleinern müssen und der Druck auf substantielle Strukturreformen dürfte massiv zunehmen. Doch Frankreich kann sich nicht alleine an den Haaren aus dem Sumpf ziehen. Da bräuchte es die Hilfe auch anderer.