Aus Angst vor der Terrorgruppe Islamischer Staat sind Hunderttausende Kurden in die Türkei geflüchtet. Dort leben mittlerweile 850'000 Flüchtlinge. Noch drastischer ist die Lage in Libanon. In dem Land, das gerade mal ein Viertel so gross ist wie die Schweiz, leben laut offiziellen Zahlen 1,2 Millionen Flüchtlinge. Inoffiziell dürften es weit mehr sein. Zwei Politologen aus Beirut erzählen, wie die Libanesen damit umgehen.
SRF Online: Innerhalb von drei Jahren sind über eine Million Syrer nach Libanon geflüchtet. Wie reagieren die Libanesen auf diesen plötzlichen Ansturm?
Hilal Khashan : Die Syrer werden nicht gerade mit offenen Armen empfangen – weder von der Regierung noch von der Bevölkerung. Das liegt einerseits an der schieren Nummer der Flüchtlinge; Libanon selber zählt gerade einmal 4,4 Millionen Einwohner. Der Zuwachs von Flüchtlingen drückt aber auch auf die Löhne, weil die Syrer für weniger Geld arbeiten als die Libanesen. Gleichzeitig dienen die Syrer auch als Sündenbock für hausgemachte Probleme.
Imad Salamey : Das ist leider so. Natürlich gibt es unter den Flüchtlingen Kriminelle, aber in Tat und Wahrheit sind die Syrer meist Opfer und nicht Täter. Sie werden attackiert, überfallen, ausgeraubt. In einigen Orten gibt es abends Sperrstunden, die nur für Syrer gelten.
Khashan : Ein anderes Problem ist, dass die Präsenz der Flüchtlinge das politische System Libanons ins Wanken bringt – ein Land, in dem erst 1990 ein jahrelanger Bürgerkrieg beendet wurde. Seither basiert die Politik auf einer klaren Teilung der Macht zwischen den religiösen Gruppen: den Sunniten, den Schiiten und den Christen. Der plötzliche Zuwachs von Syrern – meist Sunniten – ist eine ernsthafte Bedrohung für das politische System.
Mit der Ankunft der Flüchtlinge ist die Bevölkerungszahl in Libanon auf einen Schlag um einen Viertel gewachsen. Was sind die Folgen?
Salamey : Der Ansturm bringt die Infrastruktur an den Rande des Zusammenbruchs. Schon ohne Flüchtlinge gab es im Land zu wenig Wasser und zu wenig Strom. Nun hat sich das Problem noch verschärft, dramatisch verschärft. So gibt es heute in Beirut Strom-Rationierungen: täglich gibt es während sechs bis neun Stunden keinen Strom mehr; in anderen Regionen des Landes sind es bis zu 20 Stunden am Tag. Für Fabriken, Hotels und die Wirtschaft ganz allgemein ist das fatal.
Derweil wird das Grundwasser rarer und sinkt immer weiter ab. Auch in anderen Bereichen reicht die Infrastruktur nicht mehr aus, etwa bei der Müllentsorgung oder beim Recyling.
Anders als die Türkei oder Jordanien weigert sich die Regierung in Libanon, Flüchtlingscamps zu bauen. Warum?
Khashan : Libanon hat mit Flüchtlingslagern schlechte Erfahrungen gemacht. Die meisten Palästinenser, die 1948 und 1967 vom Krieg gegen Israel nach Libanon geflüchtet sind, wurden in Flüchtlingslagern untergebracht. Dort leben sie noch immer – ohne eine Hoffnung darauf, jemals zurückkehren zu können. Gleichzeitig ist es für sie nicht möglich, die libanesische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Die Regierung will eine Wiederholung dieser Situation verhindern.
Wenn es keine Camps gibt – wo leben die Flüchtlinge dann?
Khashan : Bei Verwandten, in überfüllten Wohnungen oder in Schulen. Auch Hilfsorganisationen kümmern sich um Flüchtlinge. Wieder andere leben in inoffiziellen Camps, wo es aber weder Wasser noch Elektrizität gibt.
Salamey : Es gibt auch Politiker, welche die Flüchtlinge zurück nach Syrien schicken möchten. Sie schlagen vor, in Gebieten, die nicht umkämpft sind, Camps zu errichten. Über diese soll dann die Uno wachen. Dazu bräuchte es natürlich die Einwilligung der syrischen Regierung, aber eine solche wird es nicht geben. Das Regime kann ein Flüchtlingscamp innerhalb der eigenen Grenzen nicht akzeptieren. Und solange die internationale Gemeinschaft keinen Druck macht, wird sowieso nichts passieren.
Persönlich glaube ich nicht, dass eine solche Lösung realistisch ist. Es geht den betreffenden Politikern vielmehr darum, Druck auf die syrischen Flüchtlinge auszuüben und die Feindseligkeiten gegen sie zu schüren.
Obwohl eine Rückkehr nicht absehbar ist, weigert sich die libanesische Regierung, die Syrer als Flüchtlinge anzuerkennen.
Salamey : Die Regierung will sich nicht engagieren: Wenn sie die Syrer als Flüchtlinge anerkennen würde, müsste sie die Personen so behandeln, wie es das Völkerrecht vorsieht. Das heisst, sie hätten das Recht, im Land zu bleiben – so, wie das mit den Palästinensern geschehen ist. Im Moment sorgt das Uno-Flüchtlingswerk für die syrischen Flüchtlinge, zusammen mit vielen Hilfsorganisationen. Allerdings wird es je länger je schwieriger, genügend Geld zu sammeln.
Was passiert, wenn plötzlich das Geld fehlt?
Salamey : Das wird zu grossen Problemen führen. Bei der Flüchtlingsproblematik handelt es sich um eine regelrechte Zeitbombe. Das Land kann das Problem nicht alleine lösen, es braucht die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.