Je mehr Opfer der wiederaufgeflammte Kurdenkonflikt im Südosten der Türkei fordert und je grösser das Chaos im Land ist, desto sicherer sind sich die Unterstützer von Präsident Recep Tayyip Erdogan. «Die Türkei muss das Präsidialsystem einführen», sagt etwa Yigit Bulut, persönlicher Berater Erdogans, bei jedem öffentlichen Auftritt. Auch die Abgeordneten von Erdogans Partei, der AKP, sowie parteitreue Medien und Persönlichkeiten scheinen ganz auf einen politischen Systemwechsel eingeschworen.
«Mit einem Präsidialsystemen wäre die Gefahr von Putschen geringer», sagt der AKP-treue Journalist Cemil Barlas. «Es sollte überhaupt keine Koalitionen mehr geben.» Das Zauberwort, mit dem Erdogans Anhänger die Türkinnen und Türken vom Nutzen eines fast allmächtigen Präsidenten überzeugen wollen, lautet «Stabilität». Danach sehnen sich viele angesichts der Gewalt und dem Chaos im Südosten des Landes.
Zustimmung für Verfassungsänderung
Auch die Gegner Erdogans sind überzeugt: Das aktuelle Regierungssystem der Türkei hat ausgedient. Laut dem Istanbuler Meinungsforscher Adil Gür zeigen Umfragen, dass 85 Prozent der türkischen Bevölkerung eine Verfassungsänderung befürworten. Gür selbst ist einer der wenigen Menschen in der Türkei, die sich weder dem Lager der Erdogan-Freunde, noch jenem der Erdogan-Feinde zuordnen lassen. Er sagt, Reformen seien nötig. «Denn heute haben wir einen gewählten Präsidenten und einen Premierminister, die sich, obwohl sie der gleichen Partei angehören, immer wieder ins Gehege kommen.»
Diese Doppelspitze sorge für Chaos, hört man in der Türkei oft. Doch dass es so weit kommen konnte, scheint kein Zufall zu sein. Schliesslich verkündete Erdogan nach seiner Wahl im August 2015: «Ich werde kein gewöhnlicher Präsident sein.» Er hielt Wort und begann kurz darauf, sich in die Tagespolitik einzumischen. Zudem betrieb er Wahlkampf für die AKP und trat beim G20-Gipfel in Antalya als Gastgeber auf, während für Premierminister Ahmet Davutoglu nur eine Nebenrolle blieb.
Erdogan: Verfassung anpassen
Zu seiner starken Rolle sagt Erdogan, das politische System habe sich faktisch bereits geändert. «Jetzt muss die Verfassung entsprechend angepasst werden.» Die Opposition sieht es genau umgekehrt: Nicht die Verfassung müsse an den Präsidenten angepasst werden, sondern der Präsident solle sich an die Verfassung halten und die ihm zugedachte repräsentative Rolle einnehmen. Die Oppositionsparteien von rechts bis links lehnen denn auch ein Präsidialsystem à la Erdogan geschlossen ab.
Doch Präsident Erdogan setzt bei seinen Bemühungen für die Einführung eines Präsidialsystems ohnehin nicht auf die Parlamentarier. Stattdessen will er derzeit mit einer Kampagne die Bevölkerung auf eine baldige Abstimmung zum Thema vorbereiten. Dass es dabei selten um Inhalte geht, erstaunt Meinungsforscher Gür nicht: «Wenn Sie die Türken fragen, was eine Verfassung oder ein Präsidialsystem eigentlich sind, kann über die Hälfte von ihnen nicht darauf antworten.» Es bringe deshalb nichts, der Bevölkerung jetzt etwas über Demokratie oder Gewaltentrennung zu erzählen.
Hitlers «Effizienz» als Vorbild
Erdogan wählt denn auch leicht verständliche Vergleiche, um den Türkinnen und Türken seinen Plan schmackhaft zu machen. So dienen ihm etwa die präsidial geführten USA als Vorbild. Aber nicht nur: Vor Kurzem bezog er sich auch auf die «Effizienz» von Hitlers Nazi-Deutschland. Zuvor hatten nur Erdogans Feinde diesen Vergleich gezogen.