Arm sind immer die anderen. Was heisst schon arm? Wer ist arm? Viele können sich darunter nichts vorstellen. Arm sein in Spanien ist wie eine schwere Krankheit, von der man lieber nichts Genaues wissen möchte. Sogar Menschen, die alles verloren haben, wissen oftmals nicht, dass sie zur Sozialhilfe gehen könnten.
Abgestürzte Mittelklasse
Juan Antonio Herrera vom spanischen Roten Kreuz erlebt das oft. «Viele glauben, Sozialhilfe sei für die Armen – nicht für sie», sagt er. So denke die Mittelklasse, die abgestürzt sei. «Wir sehen die Leute manchmal vor unserem Fenster stehen. Sie laufen wieder weg, ihr Stolz erlaubt ihnen nicht, um Hilfe zu bitten. Am Ende kommen sie dann doch zurück und treten ein, weil ihre Lage so verzweifelt ist.»
Herrera arbeitet im Viertel Hortaleza im Nordosten Madrids. In dieser gesichtslosen Vorstadt leben knapp 200'000 Menschen. Wohntürme beherrschen das Bild. Es ist zwar kein gastlicher Ort, aber auch kein Elendsviertel. Wer auch immer Hortaleza beschreibt, braucht das gleiche Wort – so, als hätte es noch Bedeutung: Mittelklasse. Vor der Krise war «Mittelklasse» die Verheissung. Jetzt bedeutet das Wort für viele «Absturz».
Alle waren plötzlich Mittelklasse – niemand sah sich mehr als Arbeiter.
Die Aktivistin Claudia Perrondo gehört zur Bewegung «15M» – zu den «Indignados», die mit ihren Protestmärschen gegen Krise und Korruption bekannt geworden sind. Sie erinnert sich an den allgemeinen Rausch – und an die Ernüchterung. «In den Jahren vor der Krise stiegen im Bewusstsein alle in die Mittelklasse auf, niemand sah sich mehr als Arbeiter.» Alle hätten konsumiert, man habe geglaubt, es werde ewig so weitergehen.
Dauernd sei die Botschaft verkündet worden: ‹Wir sind super, wir sind der Wirtschaftsmotor Europas›. «Das war eine Lüge, aber die Leute glaubten sie. Jetzt zuzugeben, dass man zum Opfer, zum Betrogenen in diesem System wurde, fällt schwer», sagt die Aktivistin. So verschwinden Armut und soziale Not, sie werden unsichtbar. Sie bleiben hinter den Fassaden. «Man weiss nichts voneinander», sagt Mar Sánchez, Perrondos Kollegin.
Aus Isolation wird Armut
«Wenn du zu Hause die Heizung im Winter nicht mehr anstellst, um Geld zu sparen, weisst nur du das. Wenn du nicht mehr zum Zahnarzt gehst, weisst das auch nur du. Die Gesellschaft, die Nachbarn, wissen nichts davon.» Aus dieser Isolation könne Armut werden. Die Linie zwischen dem Hier und dem Dort sei sehr fein, so Sánchez weiter.
«Und weil diese Not nicht sichtbar ist, existiert sie statistisch kaum und ist keine politische Grösse», fügt Perrondo an. Auch die Medien widmeten sich dem Thema nur selten. «Man spricht lieber von Erholung und Aufschwung. Vom Ende der Krise.»
Ein Drittel hat kein fixes Einkommen
Doch man habe gewusst, dass es eine andere Realität gibt. Deshalb haben die «Indignados» von Hortaleza, angeleitet von einem Soziologen, eine eigene Untersuchung gemacht. Das Ergebnis ist eine 60-seitige Studie über die Armut in Hortaleza. Demnach verfügt fast ein Drittel der Haushalte über kein Einkommen aus geregelter Arbeit. Es fehlt Geld für Schulbücher der Kinder oder für Kleider. Vergnügungen wie Kino, Theater oder gar Ferien sind kein Thema. Für viele wohl nicht mal mehr ein Traum.
Das ist eine Zeitbombe.
Enrique del Arbol versucht, ihnen zu helfen. Er leitet die lokalen Büros der Diaconía, dem evangelischen Pendant zur Caritas. Seit 30 Jahren arbeitet er in der Entwicklungs- und Sozialhilfe. «Nie hätte ich geglaubt, dass ich in meinem Land wieder Leute sehen würde, die in Abfallcontainern wühlen», sagt er. Plötzlich sei seine Organisation wieder damit beschäftigt, den Leuten Essen zu geben, Kleider zu verteilen, Stromrechnungen zu bezahlen. «Das ist reine Nothilfe.»
Es gebe auch Leute, die früher als Freiwillige geholfen hätten, den Notleidenden Essen zu verteilen, und die heute in den gleichen Gassenküchen anstehen, in denen sie zuvor als Helfer waren. «Das ist sehr ernst, das erfüllt sie mit Scham und Selbstzweifeln», so del Arbol.
Für viele gibt es keine Sicherheit mehr
Was einst als sicher galt, ist ins Rutschen geraten. Für viele Spanier gibt es keine Sicherheit mehr. Und die Erfolgsstatistiken vom Stellenmarkt erzählen nie die ganze Wahrheit. Herrera vom Roten Kreuz übersetzt die Zahlen in Bilder des Alltags. «Vollzeitstellen mit unbeschränktem Vertrag sind Vergangenheit.» Heute seien die Verträge meist zeitlich beschränkt, nach vier Monaten stehe man wieder auf der Strasse, suche einen neuen Job und finde nach einigen Monaten vielleicht wieder einen. Zudem: «Der Lohn ist niedrig, und er ist nicht dauerhaft.»
Familien könnten so nichts mehr planen, sagt Herrera. «Zukunft? Das ist nicht nächstes Jahr; das ist morgen, übermorgen, vielleicht nächste Woche. Weiter denkt kaum jemand. Auch die Jungen nicht, wenn sie aus armen Familien kommen.» Entsprechend könnten die Jugendlichen nicht an eine Berufskarriere denken; daran, etwas zu lernen, besser zu werden, aufzusteigen.
«Alles dreht sich nur um die Frage, wie komme ich zu etwas Geld fürs Nötigste?» Das muss man sich vorstellen – bei einer Arbeitslosigkeit, die immer noch über 20 Prozent liegt. «Das ist eine Zeitbombe», sagt Herrera. Sie tickt – und wir schauen zu.