Das türkische Parlament hat mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten gestimmt. Der Schritt richtet sich vor allem gegen die Fraktion der pro-kurdischen HDP. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wirft den HDP-Abgeordneten vor, der «verlängerte Arm» der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein.
In der Schlussabstimmung votierten 376 der 550 Parlamentarier für eine befristete Verfassungsänderung. Den Vorstoss dazu stammt von Präsident Erdogans islamisch-konservativer Partei AKP. Erdogan hatte ausdrücklich dazu aufgerufen, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben.
Erdogan selber sprach von einer «historischen Abstimmung». In Rize am Schwarzen Meer sagte er vor jubelnden Anhängern: «Mein Volk will in diesem Land keine schuldigen Parlamentarier in diesem Parlament sehen. Vor allem will es jene nicht im Parlament sehen, die von der separatistischen Terrororganisation (PKK) unterstützt werden.» Nun seien die Gerichte am Zug. «Nehmt sie und richtet über sie. Sie sollen den Preis, welchen auch immer, bezahlen.»
Parlamentarier aller Fraktionen betroffen
Die Verfassungsänderung tritt erst mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Dann ist der Weg für eine Strafverfolgung der 138 Abgeordneten frei. Die HDP befürchtet die Festnahme von Abgeordneten ihrer Fraktion, gegen die vor allem Terrorvorwürfe erhoben werden.
Die 138 Abgeordneten, denen die Immunität entzogen wird, verteilen sich jedoch auf alle vier Parteien im Parlament. Parlamentarier anderer Parteien sehen sich Anschuldigungen wie etwa Amtsmissbrauch ausgesetzt. Vom Immunitätsentzug betroffen sind laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu:
- 27 Parlamentarier der islamisch-konservativen AKP (317 Parlamentssitze),
51 Parlamentarier der Mitte-links-Partei CHP
(133 Sitze),
50 Parlamentarier der pro-kurdischen HDP
(59 Sitze),
9 Parlamentarier der ultrarechten MHP
(40 Sitze),
- die einzige parteilose Parlamentarierin.
Ihr Mandat können die Abgeordneten erst bei einer letztinstanzlichen Verurteilung verlieren. Da es in der Türkei kein Nachrücken von Parteikandidaten gibt, verliert damit eine Partei auch den jeweiligen Parlamentssitz. Sollten mindestens fünf Prozent der Sitze frei werden, muss gemäss Verfassung in diesen Wahlbezirken nachgewählt werden.
Die pro-kurdische HDP hatte vor der Abstimmung angekündigt, notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zu ziehen, um die Aufhebung der Immunität zu verhindern. HDP-Chef Selahattin Demirtas – dem die Immunität ebenfalls entzogen werden soll – hatte die AKP gewarnt: «Wir werden nicht erlauben, dass Ihr über uns in Euren (von Euch) abhängigen Gerichten urteilt.»