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Internationale Atombehörde «Die Mitarbeiter im AKW Saporischja sind unter enormen Stress»

Prekäre Arbeitssituation, anhaltender Beschuss, unsichere externe Stromversorgung – im AKW Saporischja ist die Gefahr eines nuklearen Unfalls laut IAEA noch einmal gestiegen. Botschafter Benno Laggner zeichnet ein besorgniserregendes Bild.

Benno Laggner

Botschafter

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Seit September 2020 ist Botschafter Benno Laggner der ständige Vertreter der Schweiz im Gouverneursrat bei der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA). Er wird die Schweiz von 2020 bis 2023 im Gouverneursrat der IAEA vertreten.

SRF News: Der Generaldirektor der IAEA, Rafael Grossi, hat den Gouverneursrat über die Lage im AKW Saporischja informiert. Sie waren dabei. Was wissen Sie?

Benno Laggner: Letzten Freitag wurde gemeldet, dass die externe Stromversorgung komplett unterbrochen wurde. Das ist sehr schwerwiegend. Es gibt natürlich noch Notstromaggregate, die mit Diesel betrieben werden. Kommen die zum Einsatz, ist man aber wirklich einen Schritt von einer sehr schlimmen Situation entfernt.

Die Situation hat sich ein bisschen entspannt, sie ist aber immer noch sehr kritisch.

Inzwischen wurde eine Leitung repariert, also die Situation hat sich ein bisschen entspannt, sie ist aber immer noch sehr kritisch. 

Wie gross ist Ihre Sorge, dass es zu einem nuklearen Unfall kommt?

Man kann es natürlich nicht ausschliessen. Das Augenmerk muss jetzt auf der Schaffung einer nuklearen Sicherheits- und Schutzzone gerichtet sein. Der Beschuss der Anlage muss verhindert werden und die Stromversorgung muss gewährleistet sein.

Das Augenmerk muss jetzt auf der Schaffung einer nuklearen Sicherheits- und Schutzzone gerichtet sein.

Generaldirektor Grossi hat uns gesagt, dass er diesbezüglich auch in Kontakt mit der Ukraine, mit Russland und mit anderen Staaten steht, die darauf Einfluss nehmen können. Ebenfalls ist eine Resolution in Vorbereitung, die zur Abstimmung gebracht werden soll. Russland wird darin aufgefordert, die Aktivitäten einzustellen, die das Kernkraftwerk gefährden. Das steht momentan im Fokus.

Internationale Atomenergieagentur

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Die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) ist eine autonome Organisation innerhalb der Vereinten Nationen, die unter anderem für die Überwachung des Atomwaffensperrvertrages und für die Umsetzung des Übereinkommens über nukleare Sicherheit zuständig ist.

Der Gouverneursrat ist neben der jährlichen Generalkonferenz der IAEA Mitgliedstaaten eines der beiden politischen Entscheidungsgremien der IAEA. Der Gouverneursrat ist unter anderem für die Ernennung des IAEA Generaldirektors zuständig. Neben der Schweiz sind 34 weiteren Staaten im Gremium vertreten.

Die IAEA hat seit voriger Woche zwei Experten dauerhaft in Saporischja. Was können die diese vor Ort ausrichten?

Also die Präsenz ist natürlich sehr wichtig. Durch die Präsenz der IAEA haben wir eine unabhängige Lageeinschätzung durch unsere Mitarbeiter vor Ort. Sie liefern schnelle, unabhängige und präzise Informationen, damit können wir die Weltöffentlichkeit und entsprechend auch politische Instanzen unabhängig informieren.

Wie geht es dem Personal des Atomkraftwerks?

Man muss sich vorstellen, das Werk ist von russischen Soldaten besetzt. Es hat auch russische Experten in Saporischja, wir wissen nicht genau, was deren Funktion ist. Die Mitarbeiter wohnen auch in der Nähe des AKW, in der Stadt Enerhodar, diese selbst wird auch beschossen.

Die Leute sind unter einem enormen Stress und das ist sehr gefährlich, denn das macht sie anfällig für Fehler.

Die Mitarbeiter sind natürlich auch in ständiger Sorge um ihre Angehörigen. Weil die Stadt Enerhodar beschossen wird, gibt es auch Schwierigkeiten mit der Ablösung des Personals. Die Leute sind unter einem enormen Stress und das ist sehr gefährlich, denn das macht sie anfällig für Fehler.

Haben Sie im Gouverneursrat der IAEA je gedacht, dass sie mit diesem Szenario konfrontiert sein könnten?

Nein. Wir wussten alle, dass wir auch schwierige Fragen im Gouverneursrat diskutieren, zum Beispiel den Fall Iran. Niemand hätte sich aber vorgestellt, dass wir mit einer Konfliktsituation in einem Land mit einem grösseren Nuklearprogramm zu tun haben.

Der Konflikt betrifft jetzt direkt ein laufendes AKW, sogar eine Anlage mit sechs Reaktoren, das hätte sich niemand vorgestellt.

Der Konflikt betrifft jetzt direkt ein laufendes AKW, sogar eine Anlage mit sechs Reaktoren, die grösste Anlage in Europa, das hätte sich niemand vorgestellt. Es ist wirklich eine präzedenzlose Situation.

 Das Gespräch führte Barbara Lüthi.

Club, 13.09.2022, 22:25 Uhr ; 

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