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AKW als Kriegsschauplatz Saporischja im Kreuzfeuer: Ein geflüchteter Mitarbeiter berichtet

Andrej Tuz kennt das umkämpfte AKW von innen. Aus seinem Schweizer Exil spricht er über die Gefahr eines Ernstfalls.

Seit Monaten kontrollieren russische Truppen das grösste Atomkraftwerk Europas. In den letzten Tagen hat sich die Situation in der Anlage von Saporischja dramatisch zugespitzt: Ein Notfall, je nach Darstellung verursacht durch Beschuss oder Brand, führte zu einer Teilabschaltung – und einem Stromausfall in der ganzen Region.

Mittlerweile ist das AKW wieder am Netz, die Unsicherheit aber bleibt. Internationale Beobachter haben nach wie vor keinen Zugang. SRF News konnte mit einem Mann sprechen, der die Anlage von innen kennt. Jahrelang hat Andrej Tuz im Werk gearbeitet, als Techniker und zuletzt als Mediensprecher. Seine Flucht aus der Ukraine hat ihn auf verschlungenen Wegen in die Schweiz geführt.

Steile Karriere im Kernkraftwerk Saporischja

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Andrej Tuz im Gespräch mit SRF
Legende: Andrej Tuz SRF

Tuz erscheint in einem italienischen Sportwagen zum Treffen mit SRF. Dass Flüchtende aus der Ukraine in solchen Autos vorfahren, ist ungewöhnlich. Aber der Eindruck täuscht. Es ist fast das Einzige, was dem Kraftwerkstechniker und seiner Mutter geblieben ist aus ihrem früheren Leben. Vor ein paar Wochen haben es Mutter und Sohn in die Schweiz geschafft. «In der Ukraine hatten wir alles. Gute Arbeit, guten Lohn, eine Wohnung. Aber geblieben ist jetzt nur das Auto.»

Tuz hat zehn Jahre im Kernkraftwerk von Saporischja gearbeitet. Erst als Kraftwerkstechniker. Vor gut zwei Jahren dann der Karrieresprung: Tuz wurde Mediensprecher und durfte seinen Arbeitgeber «Energoatom» in der Öffentlichkeit vertreten. Er organisierte Werksbesichtigungen und verlieh Preise. Als Ukrainer ist er stolz auf seine Arbeit im leistungsstärksten Atomkraftwerk Europas. Auch privat ging es ihm gut: Fernreisen zu Tauchgängen, in Skigebiete, mit schnellen Autos und zu Luft. Dann kam der Krieg. Auch rund um sein Atomkraftwerk.

Tuz beschreibt, wie die Kämpfe nur zwei Kilometer vom AKW begannen. «Es war Nacht. Von meinem Balkon aus habe ich die Raketen und Granaten gesehen, die auf das Atomkraftwerk flogen.» Er zeigt, wo sich die ukrainischen Verteidiger des Werkes befanden. «Sie müssen etwas abbekommen haben. Ich habe dort Blutlachen gesehen.»

Als die russischen Truppen kamen, fragten wir sie: Warum schiesst ihr auf das Werk? Sie meinten: ‹Oh, wir haben das gar nicht gewusst.›
Autor: Andrej Tuz Langjähriger Angestellter in Saporischja

Seit Kriegsbeginn ist das Atomkraftwerk schwer umkämpft. Immer wieder schlagen Geschosse auf dem Werksgelände ein. Der russische Befehl ist klar: Saporischja muss eingenommen werden – ohne Rücksicht auf Verluste. «Als die russischen Truppen kamen, fragten wir sie: Warum schiesst ihr auf das Werk?», erinnert sich Tuz. «Sie meinten: ‹Oh, wir haben das gar nicht gewusst.› Die russischen Befehlsempfänger waren sich offensichtlich der Tragweite ihres Tuns gar nicht bewusst.»

Satellitenaufnahme vom 24. August der AKW-Anlage
Legende: Wenn die Kämpfe aufflammen, muss die Kapazität des AKW aus Sicherheitsgründen heruntergefahren werden. Denn auch die Hochspannungsleitungen zum Werk werden immer wieder unterbrochen. Obwohl russische Truppen das ganze Gelände kontrollieren, auch die Kontroll- und Arbeitsräume der zivilen Beschäftigten. Für sie beginnt ein monatelanger Dauerstress. Keystone/AP/Planet Labs PBC

Tuz spricht von einem «moralischen Druck der russischen Besatzer». Die Werksleitung werde ständig einberufen: «Es heisst immer: ‹Wechselt doch auf unsere Seite!›. Es gibt auch Drohungen. Die Besatzer mischen sich in den Betrieb ein. Die kommen mit ihren Waffen rein. Und unsere Arbeiter sollen dann noch alles überwachen und richtig kontrollieren?!»

Saporischja
Legende: Die Sorge ist gross, dass der Ernstfall in Saporischja immer näher rückt. Die Stromunterbrechung und Abschaltung vom Netz in diesen Tagen hat alle alarmiert. Andrej Tuz

Was passiert, wenn das Kühlsystem im AKW ausfällt, wenn die alten Dieselgeneratoren als Notstromaggregate die Atommeiler abkühlen müssen? Tuz spricht von einer drohenden Katastrophe. «Am Donnerstag hatte ich wirklich Angst, als ich gesehen habe, was im Werk los ist. So etwa hat es hier noch nie geben.»

Es gebe verschiedene Faktoren, die sich negativ auf die Stromgeneratoren auswirken. Die Reparaturen seien während der Besatzung nicht mehr so effizient wie früher. Zudem stammten die Generatoren ursprünglich aus Russland und seit längerem gebe es Probleme mit den Ersatzteilen. «Auch können immer wieder naheliegende russische Waffendepots explodieren», erklärt Tuz. «Oder Raketen und Geschosse können einschlagen. Alle drei Stromgeneratoren sind relativ nahe zusammen. So können wir sie alle auf einmal verlieren.»

Sie haben mich gezwungen, ein pro-russisches Video zu drehen. Ich hatte keine andere Möglichkeit.
Autor: Andrej Tuz Langjähriger Angestellter in Saporischja

Tuz hat sich von Anfang gegen die russische Besatzung gewehrt – auch öffentlich und bei Demonstrationen. Bis es zu gefährlich wurde. Der russische Geheimdienst habe ihn dann verhaftet, verhört und misshandelt. Man habe ihn gezwungen, ein pro-russisches Video zu drehen, das in Russland breit verbreitet wurde. «Ich hatte keine andere Möglichkeit. Hätte ich nicht mitgemacht, wäre ich nicht mehr hier, sondern verschwunden, wie viele andere. Und meine Mutter hätte ich auch nie mehr gesehen.»

Ein verhüllter Panzer steht vor dem AKW Saporischja
Legende: Ein mit Tarndecken verhüllter Panzer vor dem AKW Saporischja. Andrej Tuz

Diese Aussagen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Ebenso, dass Tuz Angst hat, wegen seines Wissens rund um das Atomkraftwerk Saporischja weiterhin Zielscheibe der Geheimdienste zu sein.

10vor10, 26.08.2022, 21:50 Uhr

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