«Ich hatte eine schöne Kindheit», erzählt Alfred Popper. Mit seinem Bruder wuchs er in Prag auf. Die Familie war religiös liberal und pflegte regen Kontakt mit christlichen Nachbarn. Am 15. März 1939 marschierten Wehrmacht und SS ein. Der Alltag änderte sich dramatisch. «Ich wurde aus der Schule geschmissen und durfte nicht mehr ins Kino. Wir mussten den gelben Stern tragen». Die Firma des Vaters wurde «arisiert», kam unter deutsche Kontrolle.
Im März 1943 wurde die ganze Familie ins KZ Theresienstadt deportiert. Die Nazis nutzten es als Durchgangslager. Von hier aus rollten die Züge Richtung Auschwitz.
Nach drei Tagen sind wir in Auschwitz gelandet. Einige alte Menschen sind unterwegs gestorben. Plötzlich gingen die Türen auf, und ein Geschrei ging los: ‹Alle raus, raus!›
Am 28. Oktober 1944 mussten auch die Poppers in einen stickigen Güterwaggon steigen. Alte, Junge, Frauen, Kinder – 80 Personen teilten sich einen Toiletteneimer. «Nach drei Tagen sind wir in Auschwitz gelandet. Einige alte Menschen sind unterwegs gestorben. Plötzlich gingen die Türen auf, und ein Geschrei ging los: ‹Alle raus, raus!›»
Vom Gewissen geplagt, überlebt zu haben
Auf der berüchtigten Rampe selektierte Josef Mengele die Ankömmlinge in Arbeitsfähige und jene, die direkt in die Gaskammern kamen. «Ich stand wenige Meter von ihm entfernt und erfuhr später, dass er der bekannte SS-Arzt war.» Für die SS war Alfred Popper fortan nur noch Nummer B13758. Zwölf Jahre alt war er damals – ein Junge in ständiger Todesangst. Er litt Hunger, sah Leichenberge. «Ich vergesse diesen Horror nie. Ich habe die Hölle erlebt.»
Die Nazis wollten uns entmenschlichen. Aber sie haben sich selbst entmenschlicht, weil sie sich so etwas ausgedacht haben.
Dass er der Gaskammer entkam, bezeichnet er als ein Wunder. «Lange hatte ich ein schlechtes Gewissen deswegen, während andere, wunderbare Menschen auf so grausame Art umgebracht wurden.»
Ich war abgemagert bis auf die Knochen, ich war ein sogenannter ‹Muselmann›.
In Auschwitz ermordeten die Nazis mehr als eine Million Menschen. «Warum?» – die Frage treibt Alfred Popper bis heute um, macht ihn fassungslos. Es zeige, wozu Menschen fähig seien.
«Die Nazis wollten uns entmenschlichen. Aber sie haben sich selbst entmenschlicht, weil sie sich so etwas ausgedacht haben.» Als Zeitzeuge sieht er die Juden als Symbol für viele andere, welche die Nazis ebenfalls ausrotten wollten.
Todesmarsch nach Westen
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das grösste Konzentrations- und Vernichtungslager im deutsch besetzten Europa. Zuvor trieb die SS die überlebenden Häftlinge auf einen Todesmarsch Richtung Westen. Wer zu schwach war und zusammenbrach, wurde erschossen.
Unter abenteuerlichen Umständen gelangte Alfred Popper samt Vater und Bruder ins KZ Mauthausen bei Linz. «Ich war abgemagert bis auf die Knochen, ich war ein sogenannter ‹Muselmann›.» Im letzten Moment retteten ihm tschechische Mitgefangene das Leben.
Man muss sich wehren gegen Nazis, gegen Terroristen, die alle vernichten wollen, nicht nur die Juden. Wenn die Juden verschwinden, verschwindet auch unsere Zivilisation.
Der Vater starb noch im März 1945 im KZ Mauthausen. Die Mutter überlebte im KZ Bergen-Belsen, das Mitte April 1945 von britischen Truppen befreit wurde.
Kämpfen für Freiheit und Demokratie
Nach dem Krieg fanden sich Mutter und Brüder in Prag wieder. 1968 schlugen sowjetische Truppen den «Prager Frühling» nieder. Da sah Alfred Popper keine Zukunft mehr in der Tschechoslowakei. Der diplomierte Elektroingenieur emigrierte in die Schweiz und gründete eine Familie.
Der wachsende Antisemitismus bereitet ihm Sorgen und ängstigt ihn. «Auschwitz» sei eine Warnung und könne sich wiederholen. Deshalb gelte es, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. «Man muss sich wehren gegen Nazis, gegen Terroristen, die alle vernichten wollen, nicht nur die Juden. Wenn die Juden verschwinden, verschwindet auch unsere Zivilisation.»