SRF News: Diese Woche jährt sich der Putschversuch in der Türkei. Wie sehen die geplanten Gedenkveranstaltungen aus?
Cigdem Akyol: Diese Woche wird von der Türkei dazu genutzt, Präsident Recep Tayyip Erdogans Narrativ weiter zu unterstreichen und seine «neue Türkei» noch stärker zu festigen. Er hat heute damit begonnen, indem er in Istanbul mit seinem Ministerpräsidenten Binali Yildirim einen Märtyrerfriedhof aufgesucht hat. Auf diesem Friedhof sind 15 Todesopfer der Putschnacht begraben. In den nächsten sechs Tagen werden landesweit Feierlichkeiten stattfinden. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli, der des Putschversuchs vor einem Jahr, wird es eine sogenannte Demokratiewache in der ganzen Türkei geben. AKP-Anhänger werden dazu für Erdogan und für die Partei demonstrieren. Erdogan selbst wird eine Rede halten. Fast zeitgleich sollen die islamischen Totengebete von den Minaretten der rund 90'000 des Landes Moscheen zu hören sein.
Das heisst, die andere Seite des Putschversuchs ist in diesem Tagen kein Thema in der Türkei?
Aus der Perspektive der Regierung handelt es sich dabei ohnehin um Putschisten oder gar um Terroristen. Diese andere Seite wird mitunter denunziert. Denn wir wissen immer noch nicht, wer hinter dem Putschversuch steht. Die türkische Regierung hat ein ganz eigenes Narrativ der Ereignisse des letzten Sommers. Und mit dieser Geschichtsschreibung fährt sie mit dem Staatsumbau fort.
Erdogan kann nicht ignorieren, dass Hunderttausende gegen seine Politik demonstrieren.
Die Opposition hat mit dem Gerechtigkeitsmarsch am Wochenende Wind unter die Flügel bekommen. Ein Wendepunkt für die Regierungsgegner?
Ich würde es nicht als Wendepunkt bezeichnen. Es ist aber ein sehr wichtiges Symbol für Erdogan. Denn er kann nicht ignorieren, dass Hunderttausende Menschen sich am Sonntag in Istanbul zusammengefunden haben, um gegen ihn und seine Politik zu demonstrieren. Aber als Wende würde ich das trotzdem nicht betrachten, weil die Opposition in der Türkei immer noch zu schwach ist, und Erdogan immer noch zu stark. Den Wendepunkt hätten wir durchaus 2013 haben können, während der Gezi-Proteste. Diese wurden aber niedergeknüppelt.
Wie organisiert sich die Zivilgesellschaft, wenn man als Regierungskritiker Gefahr läuft, ins Fadenkreuz des Machtapparates zu kommen?
Da es kaum mehr freie Presse gibt in der Türkei, sind soziale Netzwerke – Twitter, Facebook et cetera – wichtig. Sie werden sehr stark genutzt, vor allem von jungen Türken. Da organisiert man sich, da tauscht man sich aus, da findet man sich.
Kann die Opposition dem erwähnten Narrativ denn nichts entgegensetzen?
Davon gehe ich nicht aus. Erst heute Morgen wurde gegen 105 IT-Experten Haftbefehl erlassen. Gestern wurden Dutzende Akademiker festgenommen. Die Säuberungswelle – ein Wort, das Erdogan selbst benutzt – ist noch in vollem Gange. Rund 50'000 Menschen sitzen im Gefängnis, sie wurden nach dem Putschversuch inhaftiert. Rund 100'000 Menschen haben ihre Stelle verloren.
Die Säuberungswelle ist noch in vollem Gange.
Werden Erdogan und die AKP ihre Macht also weiter ausbauen?
So sieht es aus. 2019 sind Parlaments- und Präsidentenwahlen. Erst dann wird das Präsidialsystem eingeführt werden. Um dieses System kämpft Erdogan schon seit Jahren ganz verbissen. Das wird er nicht einfach aufgeben. Er ist ein Politiker, der zutiefst pragmatisch ist. Er ist kein Ideologe. Er hat erkannt, dass er durch Nationalismus und Instabilität Stimmen gewinnen kann. Wieso soll er das ändern? Sein Weg bringt ihm ja durchaus Erfolg. Also wird er ihn weitergehen.
Das Gespräch führt Nicoletta Cimmino.