Im Süden Armeniens lebten Armenier und Aserbaidschaner einst zusammen, wie auf der anderen Seite der nahen Grenze in Aserbaidschan. Lusine Sakarjan ist im Städtchen Meghri neben dem Bahnhof aufgewachsen. Der Ort war einst ein wichtiger Durchgangspunkt auf der Strecke zwischen den beiden Hauptstädten Eriwan und Baku.
«Um acht Uhr hielt jeweils der Zug nach Baku. Wir Kinder sind runter zum Bahnhof und haben für die Passagiere gesungen. Die Aserbaidschaner hatten immer so leckere Oliven dabei», erinnert sie sich.
Damals habe es zwischen den Nachbarn keinen Streit gegeben. «Wir haben gemeinsam Feste gefeiert: ihre muslimischen und unsere christlichen», sagt Sakarjan.
Grenze seit Jahrzehnten geschlossen
Heute ist der Bahnhof in Meghri verlassen. Auf überwucherten Gleisen stehen noch ein paar verrostete sowjetische Rangierloks; der Ankunftssaal ist eine Ruine. Seit Ende der 1980er-Jahren fährt hier kein Zug mehr. Damals brach der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan aus, seither sind die Grenzen geschlossen.
Da dachten die Aserbaidschaner hier in Armenien, dass es für sie vielleicht auch besser wäre, zu gehen.
Damit habe auch das Zusammenleben ein Ende genommen, erzählt Seda Nasarjan aus der nahen Stadt Sissian. Ihre Verwandten hätten aus Baku in Aserbaidschan fliehen müssen – wegen Pogromen gegen die dortige armenische Bevölkerung. «Da dachten die Aserbaidschaner, die hier bei uns lebten, dass es für sie vielleicht auch besser wäre, zu gehen.»
Heute ist Armenien eines der ethnisch homogensten Länder der Welt. Und in Aserbaidschan leben keine Armenierinnen und Armenier mehr. Einst machten sie dort zehn Prozent der Bevölkerung aus.
Viele Armenier wurden gewaltsam aus Aserbaidschan vertrieben, manche wurden getötet. Aber auch in Armenien gab es Gewalt gegen Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner. Das wird in Armenien oft ausgeblendet.
Armenien ist das ärmere und militärisch schwächere Land – und es bemüht sich heute um Frieden. Doch in aserbaidschanischen Schulbüchern werden Armenier bis heute als «Feinde» bezeichnet. Auch heisst es dort, dass das Gebiet von Armenien historisch «West-Aserbaidschan» sei – Armenier seien in der Region gar nicht einheimisch.
Die Narben müssen heilen
Im Abkommen, das Donald Trump mit den Regierungschefs der beiden Länder jüngst präsentierte, steht nichts zur Vergangenheitsbewältigung. Doch Aserbaidschans Geschichtsschreibung schafft neue Konflikte: Etwa zum Rückkehrrecht, das Baku für Aserbaidschaner fordert, aber für Armenier nicht vorsieht.
Ich kann die Aserbaidschaner nicht hassen. Ich wünsche mir, dass alles wieder wird wie früher.
«Ich weiss nicht, ob die Aserbaidschaner zu uns zurückkommen werden», sagt Seda Nasarjan. «Aber eines ist klar: Wir Armenier werden nie wieder in Baku leben können.»
Lusine Sakarjan hingegen glaubt, dass ein friedliches Zusammenleben wieder möglich sein könnte. Über Facebook haben ihr alte Schulkameradinnen geschrieben – obwohl der Kontakt nach Armenien in Aserbaidschan riskant ist.
«Als Kind habe ich beim Spielen einem aserbaidschanischen Buben die Schulter ausgerenkt. Und 40 Jahre später schreibt mir ein Aserbaidschaner auf Facebook, ‹Bist nicht du die Lusine, die mir mal die Schulter ausrenkte?› Wir haben uns lange über die alten Freunde unterhalten.»
Es wird aber nicht einfach, die Narben des Krieges zu heilen. Das ist sich auch Sakarjan bewusst. «Ich verstehe, wenn eine armenische Mutter, die ihren Sohn verloren hat, mich verurteilt. Aber ich kann die Aserbaidschaner nicht hassen. Ich wünsche mir, dass alles wieder wird wie früher.»