Sie ist noch immer weit verbreitet, die Ehe mit Kindern. Auch wenn die Zahlen in einigen Regionen sinken – für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF ist klar: Kinderehen sind noch immer ein globales Problem.
SRF News: Sind Kinderehen in der Geschichte der Menschheit normal?
Jürg Keim: Es gibt Gesellschaften, in denen Kinderehen tief in der Form von sozialen Normen verankert sind. Kinderehen sind oftmals aus der Not heraus entstanden – Eltern haben die Absicht, ihren Kindern das Beste zu bieten. Aus westlicher Sicht ist das natürlich anders. Kinderehen verletzen für uns Grundrechte.
Was sind die Hauptursachen für Kinderehen?
Grundsätzlich kann man sagen, dass es ein globales Problem ist. Wir gehen von vier Haupttreibern aus:
Geschlechterungleichheit: Mädchen sind vielerorts weniger wert, sie sind für die Familien eine ökonomische Last. Durch die Verheiratung kann die Last der Familie des Bräutigams übergeben werden.
Tradition: Sehr oft werden Kinder verheiratet, weil es über Generationen so gemacht wurde. Die Menstruation etwa gilt als Zeichen, dass ein Mädchen eine Frau geworden ist. Die Ehe ist eine logische Folge davon. Die Norm wird nicht hinterfragt, mitunter, weil der Druck der Gesellschaft auf die einzelnen Mitglieder sehr gross ist.
Armut: Über die Hälfte der Mädchen der ärmsten Familien in den Entwicklungsländern wurden als Kind verheiratet. Viele Eltern sehen die Ehe ihrer Töchter als Rettung der Zukunft. Dadurch, dass ein Kind abgegeben werden kann, senken sich die Familienausgaben. Durch Hochzeiten können sich Familien teilweise von Schulden freikaufen.
Unsicherheit: Wir sehen, dass Kinderehen in krisengeschüttelten Regionen häufiger vorkommen. Neun von zehn Staaten mit Kinderehen sind fragile Staaten. Eltern versuchen für die Kinder durch die Hochzeit eine gewisse Sicherheit zu schaffen – oft im Glauben, dass sie etwas Gutes tun.
Für Kinder bedeutet die Ehe, dass sie sich nicht richtig entwickeln können – einerseits emotional, andererseits aber auch geistig.
Sind auch Buben von der Kinderehe betroffen, also bei der Heirat minderjährig?
Man geht davon aus, dass etwa 20 Prozent der Betroffenen Buben sind. Daten dazu sind jedoch nur beschränkt verfügbar.
Was bedeutet eine Kinderehe für die Betroffenen?
Für Kinder bedeutet es, dass sie sich nicht richtig entwickeln können – einerseits emotional, andererseits aber auch geistig. Verheiratete Mädchen müssen oft die Schule vorzeitig abbrechen, können dementsprechend keine Ausbildung machen, sie werden sozial isoliert.
Während der Schwangerschaft werden sie ausserdem nicht richtig versorgt. Da ihr Körper noch nicht genug gereift ist für eine Schwangerschaft gefährdet dies Mutter und Kind. Zudem bieten solche Ehen auch ein erhöhtes Risiko für Gewalt zuhause, für Missbräuche und sexuell übertragbare Krankheiten. Denn junge Frauen getrauen sich weniger, auf Safer Sex zu bestehen.
Auch in der Schweiz sind Kinderehen – aufgrund von Einwanderern mit anderen sozialen Normen und Traditionen – ein Thema.
Wie sieht die Gesellschaft in den betroffenen Regionen die Thematik?
Für viele Familien sind die Ehen eine Entlastung. Was wir feststellen ist, dass sich die am stärksten betroffenen Regionen etwas verlagert haben. Noch vor zehn Jahren wurde beispielsweise in Indien jedes zweite Mädchen verheiratet. Heute sind es noch 30 Prozent – was natürlich immer noch 30 Prozent zu viel ist.
In anderen Regionen, wie zum Beispiel in der Subsahara, geht der Fortschritt schleppender voran. Insgesamt kann man aber sagen, dass Kinderehen weltweit zurückgegangen sind – auch, weil vielerorts die rechtlichen Grundlagen nicht nur geschaffen, sondern auch vollzogen wurden.
Gibt es Kinderehen auch in westlichen Ländern?
Die Regionen mit den meisten Kinderehen sind die Subsahara, Südasien, Lateinamerika und die Karibik. Aber auch in Osteuropa ist das Problem verbreitet, vor allem in den benachteiligten Schichten. So werden etwa 50 Prozent der Roma-Mädchen aus dem Balkan noch immer zwangsverheiratet. Auch in der Schweiz sind Kinderehen – aufgrund von Einwanderern mit anderen sozialen Normen und Traditionen – ein Thema.
Wird sich das Schicksal der vielen Kinder in den nächsten Jahren verändern?
Global gesehen gehen die Kinderehen zurück, innerhalb der letzten zehn Jahre um 25 Prozent. Die Agenda 2030 der UNO sieht vor, die Praxis der Kinderehen bis 2030 beendet zu haben. Ich gebe zu, das ist ein ehrgeiziges Ziel. Aber UNICEF arbeitet mit Regierungen und Behörden in den verschiedensten Ländern und Regionen zusammen. Die Kinderrechtsorganisation unterstützt diese darin, neue Gesetze und Programme zu schaffen und diese erfolgreich umzusetzen.
Ausserdem entwickelt UNICEF Angebote, um insbesondere adoleszente Mädchen zu stärken und in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Dabei gilt es auch, die Ursachen für Kinderehen genau zu erforschen. Mit Hilfe eines Rechtssystems muss jedes Land eine passende Lösung finden. So, dass sich die sozialen Normen, welche momentan noch von einer Mehrheit getragen werden, verändern können.
Das Gespräch führte Viviane Bischoff.