Seit dem 10. Oktober gilt zwischen Israel und der Hamas eine Waffenruhe. Doch der Krieg hat bei der Bevölkerung tiefe Narben hinterlassen, auch bei Kindern. Katrin Glatz Brubakk war als Kinderpsychologin für Ärzte ohne Grenzen in Gaza. Sie berichtet von schwer traumatisierten Kindern, magischen Seifenblasen und erzählt, warum sie vor ihrem Einsatz Abschiedsbriefe schrieb.
SRF News: Verhalten sich Kinder jetzt in der Waffenruhe anders als Erwachsene?
Karin Glatz Brubakk: Ja, als die Waffenruhe kam, haben sich die Kinder wahnsinnig gefreut. Sie dachten, sie könnten sofort zurück in ihre Häuser, zu ihrem Spielzeug und in ihre Betten. Sie verstehen den Umfang der Zerstörung nicht. Erwachsene sind auch erleichtert, aber sie wissen, dass das Haus weg ist und es Jahre dauern wird. Die Kinder haben noch diese naive Annäherung an die Welt, auch wenn sie bald merken, dass der Alltag nicht so einfach zurückkehrt.
Sie arbeiten mit Seifenblasen, um den Kindern zu helfen. Warum?
Seifenblasen sind magisch. Das Nervensystem der traumatisierten Kinder läuft auf Hochtouren, sie haben die ganze Zeit Angst. Wenn sie Seifenblasen machen, wechselt ihr Fokus. Sie müssen tief durch den Bauch atmen und langsam ausatmen, um die schönen Blasen zu erzeugen. Das beruhigt den Körper ganz automatisch. So können wir ihnen auf spielerische Weise helfen, für Augenblicke zu entspannen, zu lachen und einfach wieder Kinder zu sein.
Welche Kinder sind am stärksten betroffen?
Die Gruppe, die am häufigsten stirbt und verletzt wird, sind die Fünfjährigen. Sie sind zu gross, als dass die Eltern sie bei einem Angriff schnell hochheben und wegrennen können, aber ihre Beine sind noch zu kurz, um selbst schnell genug zu laufen.
Für eine richtige Traumatherapie ist die Situation zu unstabil.
Sie selbst haben vor dem Einsatz in Gaza Abschiedsbriefe an Ihre erwachsenen Kinder geschrieben.
Ja, ich habe die Briefe mit «Entschuldigung» angefangen. Denn ich bin ein Risiko eingegangen, und falls ich nicht zurückgekommen wäre, wäre meine Risikoeinschätzung falsch gewesen. Es waren Worte, die mir wichtig waren zu sagen, falls ich es nicht mehr selbst gekonnt hätte: Wie sehr ich sie lieb habe und was ich ihnen für ihr weiteres Leben wünsche.
Wir bekommen eine ganze Generation, die kognitive Kriegsschäden mitschleppt, die dann ein Leben lang anhalten können.
Wie therapieren Sie Kinder in Gaza?
Die grösste Herausforderung ist, dass ich vieles nicht machen kann. Für eine richtige Traumatherapie ist die Situation zu unstabil. Wir müssen mit dem arbeiten, was möglich ist: dem Nervensystem Pausen zu geben, damit es sich beruhigen kann. Das erreichen wir durch Spielen, Zeichnen oder Gruppentherapien. Es geht darum, überhaupt Kontakt zu bekommen und Vertrauen aufzubauen in einer Welt, die für sie unsicher geworden ist.
Welche langfristigen Schäden hinterlässt der Krieg im Gehirn der Kinder?
Unser Gehirn ist gebrauchsabhängig. Diese Kinder werden sehr gut darin, Angst zu haben. Das geht auf Kosten des präfrontalen Kortex, der sich nicht richtig entwickelt. Dieser Teil ist für Impulskontrolle, Planung und Beziehungen zuständig. All das wird stark geschwächt. Wir bekommen eine ganze Generation, die kognitive Kriegsschäden mitschleppt, die dann ein Leben lang anhalten können.
Das Gespräch führte David Karasek.