Es geschah in Waisenhäusern in Island und Rumänien, in Schulen in Schweden und Norwegen, in kirchlichen Institutionen in Deutschland, Belgien oder Spanien, auf Bauernhöfen in der Schweiz, in Sommerlagern in Frankreich. Physische Gewalt, psychische Gewalt, sexueller Missbrauch, Fürsorgeentzug, Zwangsadoptionen, Zwangssterilisierungen. «Der Katalog der Misshandlungen hat kein Ende», sagt der Schweizer Europaratsabgeordnete und jurassische SP-Nationalrat Pierre-Alain Fridez in der Debatte.
Er war der Berichterstatter des Europarats beim Thema Kindesmissbrauch und treibende Kraft hinter dem heutigen Beschluss. Die Schweiz habe unter Druck der Öffentlichkeit handeln müssen. Dank der europaweiten Lobbyorganisation «Justice Initiative» könnten nun auch die Regierungen der übrigen 45 Europarats-Mitgliedstaaten nicht länger wegschauen.
Die Debatte in Strassburg war lebhaft, doch der Wille, die Schweizer Lösung zur europäischen zu machen, war klar. Die deutsche Abgeordnete Heike Engelhardt lobt Pierre-Alain Fridez' Recherchen in zahlreichen Ländern: «Seine Reisen haben auf erschreckende Weise gezeigt, welchen Misshandlungen Kinder in Europa ausgeliefert waren – und es teilweise noch sind.»
Engagiert brachten sich nicht zuletzt ukrainische Parlamentarierinnen ein. Ihr Land ist wegen der rund 20'000 von Russland deportierten Kinder besonders betroffen. Lesia Vasylenko ist überzeugt: «Die Schweizer Lösung lässt sich auch anderswo durchsetzen.»
Resolution fast einstimmig beschlossen
«Geht es um fundamentale Werte, herrscht häufig Konsens im Europarat», sagt Pierre-Alain Fridez. Weil es nirgendwo sonst ein so umfassendes Gesetz gebe, habe sich nun das Schweizer Modell durchgesetzt. Auch Aussenminister Ignazio Cassis hat sich schon vor einiger Zeit mit einem Auftritt am Sitz des Europarats dafür eingesetzt.
Europaweit gibt die Strassburger Institution jetzt vor, was in der Schweiz per Bundesgesetz gilt: Anerkennung des Leids, wissenschaftliche Aufarbeitung, offizielle Entschuldigung bei den Opfern, erkleckliche Entschädigungen, Bestrafung der Täter sowie Vorbeugung, um neue Fälle zu verhindern. «Umsetzen müssen das nun die einzelnen Staaten», erläutert Fridez: «Es braucht bestimmt – wie zuvor in der Schweiz – eine breite Mobilisierung, damit rasch gehandelt wird.»
Das Beispiel Kindesmissbrauch zeigt für den Schweizer Botschafter beim Europarat, Claude Wild, exemplarisch, welche Rolle die Organisation spielen kann: «Man lernt aus den Erfahrungen eines Landes und wendet Rezepte, die dort funktionieren, überall an. In diesem Fall verfügt die Schweiz über eine gute Praxis. Übernehmen andere Länder diese, ist allen Opfern viel schneller geholfen.»
Für ein derartiges Vorgehen könnte und sollte man sich wohl noch weitaus häufiger entscheiden.