«Rosch Chodesch» heisst der Monatsanfang im jüdischen Kalender. Im traditionellen Judentum haben Frauen an diesem Tag frei – eine göttliche Belohnung für ihre Weigerung, zu Moses’ Zeiten ihren Schmuck für den Bau eines goldenen Kalbes herzugeben. Für jüdische Frauenbewegungen wie die «Frauen der Mauer» ist der Monatsanfang ein Tag des Protests.
Wie an diesem Dienstagmorgen Ende Mai, kurz nach sechs Uhr. Sechzehn Frauen treffen sich auf einem Parkplatz in sicherer Distanz zur Altstadt von Jerusalem: ältere, ganz junge, die einen in Israel geboren und aufgewachsen, andere seit Jahrzehnten im Land.
Yochi Rappeport, Direktorin der «Frauen der Mauer», stammt aus Tzvat im Norden Israels und wurde in einer religiösen Mädchenschule erzogen. Als die Frauen im Shuttlebus sitzen, der sie zur Klagemauer fährt, erklärt sie augenzwinkernd das Ziel fürs gemeinsame Gebet an der heiligen Stätte.
«Wir werden heute hoffentlich aus der echten Torah vorlesen», sagt sie. Alle wissen, was sie meint: Gemäss orthodoxer Tradition dürfen nur Männer öffentlich aus der Bibel vorlesen. Um es ihnen gleichzutun, müssen die Frauen die Heilige Schrift hineinschmuggeln.
Wenn Frauen an der Klagemauer singen, ist die Hölle los
Rund zehn Minuten dauert die Fahrt bis zum Eingang zur Klagemauer. Linda Avitan, Vorstandsmitglied der «Frauen der Mauer», ist aufs Schlimmste gefasst. «Hoffentlich geht alles gut», sagt die konservative Jüdin, als der Bus vor dem Eingang zur Klagemauer anhält. Seit 28 Jahren macht sie diesen monatlichen Protest mit und weiss, wie aggressiv die Stimmung gegen die Frauen werden kann.
Die Sicherheitskontrolle vor der Klagemauer hat zwei Eingänge: einen für Männer und einen für Frauen. Einige der Frauen stellen sich demonstrativ in die kürzere Schlange vor dem Männereingang. Die Sicherheitsbeamten durchsuchen die Handtaschen der Frauen gründlich und nehmen Yochi Rappeport eine leere Torah-Hülle weg. Diese ist empört: «Frauen verwehren sie den Zugang zur Heiligen Schrift – sogar eine leere Bibel-Hülle ist für sie gefährlich. Aber Protestplakate gegen uns lassen sie durch!»
«Yochi, hau ab!», rufen zwei ultraorthodoxe Jugendliche. Ein Sicherheitsbeamter warnt die Frauen eindringlich. «Stellt euch hinter die Abschrankung, sonst kann ich euch nicht beschützen!», sagt er. Die Frauen wollen jedoch nicht hinter ein Gitter am Rande der Klagemauer, nur weil sie nicht nach Vorschrift beten. Sie stellen sich mitten unter die streng religiösen Frauen und beginnen zu singen.
Ab diesem Moment ist es mit der heiligen Ruhe an der Klagemauer vorbei. Aus dem Bereich, wo die Männer getrennt von den Frauen beten, kommt ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert. Auch die streng-religiösen Frauen beginnen laut zu protestieren: Singen empfinden sie als Bruch ihrer Tradition.
«Diese Frauen schaden dem Judentum mehr als der Holocaust»
«So können wir nicht beten», sagt die Schülerin einer religiösen Mädchenschule. «Sie wollen provozieren. Für ein religiöses Mädchen wie mich ist das so verletzend, dass ich jetzt nach Hause gehe, um zu weinen!»
Nicht nur, dass diese jüdischen Frauen anders beten als sie, verletzt die 18-Jährige. «In Amerika heiraten diese Reform-Frauen Nicht-Juden. Mit ihrer Assimilierung schaden sie dem Judentum mehr als der Holocaust», sagt die Schülerin. «Sie hören nicht auf die Rabbiner und die Torah, weil sie uns ihre Lebensart hier in Israel aufdrücken wollen!»
Ich kann nicht zulassen, dass die radikalen Eiferer bestimmen, was jüdisch ist!
Gegen den ungeheuren Vorwurf, die Frauen der Mauer würden das jüdische Volk quasi auslöschen, nur weil sie anders als Ultraorthodoxe beteten, wehrt sich Yochi Rappeport vehement. «Bei uns machen Frauen mit ganz unterschiedlichem religiösen Hintergrund mit, auch Orthodoxe und Konservative. Ausserdem belebt die Reformbewegung das Judentum auch!»
Die Direktorin der Frauenorganisation bezeichnet sich selbst als orthodox. «Aber ich kann nicht zulassen, dass die radikalen Eiferer bestimmen, was jüdisch ist!»
«Sie jagen uns, mit Feuer in ihren Augen!»
Die Männer drehen den Lautsprecher auf, aus dem der Rabbiner betet, um die singenden Frauen zu übertönen. Plötzlich heben diese eine Tora-Schriftrolle hoch. Wer die Heilige Schrift zur Klagemauer geschmuggelt hat, sagen sie nicht.
Aber nach dieser Provokation müssen die Frauen die Klagemauer unter Polizeischutz verlassen – ein Spiessrutenlauf. Trotz Polizeikordon gelingt es einigen Männern, die Frauen aus nächster Nähe zu bedrohen.
«Eure Provokationen sind hässlich - und ihr seid erst noch hässliche Frauen! Zur Hölle mit euch!», ruft ein älterer ultraorthodoxer Mann. Die Polizei kann die wütende Menge kaum zurückdrängen. Die Frauen schaffen es schliesslich, unversehrt in den Bus einzusteigen.
«Heute war es schlimmer als sonst. Die Polizei hat uns weniger gut abgeschirmt, die Leute jagten uns, mit Feuer in den Augen!», sagt Linda Avitan. Dieser Gefahr setzen sich die Frauen der Mauer seit 34 Jahren aus. Verändern konnten sie die Regeln für die Geschlechtertrennung an der Klagemauer jedoch kaum.
Zwar ging die religiöse Instanz, die für die Klagemauer zuständig ist, 2016 auf einen Kompromissvorschlag ein. Demnach soll ein Gebetsteil geschaffen werden, wo nicht traditionell orientierte Juden und Jüdinnen gemeinsam beten dürfen. Bis heute hat sich jedoch keine israelische Regierung an die konkrete Umsetzung gewagt. Zu umstritten ist der schrille Frauenprotest an der Klagemauer – selbst unter jüdischen Feministinnen.
«Diese Frauen verkennen die tiefe Bedeutung der Klagemauer»
Einat Ramon ist Dozentin für jüdisches Denken und Frauenstudien am Schechter Institute in Jerusalem. Ihr ist nicht klar, warum die Frauen ausgerechnet an der Klagemauer gegen Geschlechterdiskriminierung kämpfen.
«Diese Frauen verstehen die tiefere, mystische Bedeutung der Klagemauer nicht», sagt sie. Vor 2000 Jahren sei der zweite jüdische Tempel zerstört worden – bis auf die Klagemauer. Jahrhundertelang, bis 1967, hätten Juden und Jüdinnen ums Recht kämpfen müssen, an der Klagemauer beten zu dürfen. Die Mehrheit in Israel sehe die streng orthodoxen Juden als Bewahrer dieses heiligen Ortes. Ihre Art zu beten, selbst die traditionelle Trennung von Männern und Frauen, gehöre für die meisten Juden und Jüdinnen einfach zur Klagemauer.
«Wenn man nun fordert, dass Frauen an der Klagemauer dasselbe tun dürfen wie Männer, zerstört man die delikate Balance zwischen dem streng Religiösen und dem Weltlichen in Israel», sagt die Dozentin Einat Ramon. Diese Balance sei essenziell für den Zusammenhalt Israels. Trotz streng religiöser Regeln stehe die Klagemauer zudem der ganzen Welt offen. «Es besteht die Angst, die Klagemauer würde als lebendiger religiöser Ort sterben, wenn dort jedes beliebige Ritual erlaubt würde.»
Linda Avitan vom Vorstand der Frauen der Mauer sieht das anders. Die heftige Reaktion auf ihre Art zu beten zeige, dass Frauen um ihren Platz kämpfen müssen. «Eine Offizierin durfte an der Klagemauer nicht einmal an der Vereidigung ihrer Soldatinnen sprechen! Wir wollen verhindern, dass solcher Extremismus in der israelischen Gesellschaft überhandnimmt», sagt Linda Avitan. Die anderen Frauen sind bereits wieder zur Arbeit oder nach Hause gegangen – bis zum nächsten «Rosch Chodesch»-Protest.