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Kräftemessen in Jerusalem Das Klagelied der Frauen an der Klagemauer

Einmal pro Monat kommt es an der Klagemauer in Jerusalem zu Tumulten. Seit 34 Jahren kämpft eine Gruppe von Jüdinnen gegen die strengen religiösen Vorschriften, die ihrer Ansicht nach Frauen diskriminieren.

«Rosch Chodesch» heisst der Monatsanfang im jüdischen Kalender. Im traditionellen Judentum haben Frauen an diesem Tag frei – eine göttliche Belohnung für ihre Weigerung, zu Moses’ Zeiten ihren Schmuck für den Bau eines goldenen Kalbes herzugeben. Für jüdische Frauenbewegungen wie die «Frauen der Mauer» ist der Monatsanfang ein Tag des Protests.

Wie an diesem Dienstagmorgen Ende Mai, kurz nach sechs Uhr. Sechzehn Frauen treffen sich auf einem Parkplatz in sicherer Distanz zur Altstadt von Jerusalem: ältere, ganz junge, die einen in Israel geboren und aufgewachsen, andere seit Jahrzehnten im Land.

Ein Mitglied der jüdischen Frauenorganisation «Women of the Wall» trägt einen Gebetsschal.
Legende: Ein Mitglied der jüdischen Frauenorganisation «Frauen der Mauer» trägt einen Gebetsschal, der nach orthodoxer Tradition Männern vorbehalten ist. Sie betet aus einem inoffiziellen Gebetsbuch. SRF

Yochi Rappeport, Direktorin der «Frauen der Mauer», stammt aus Tzvat im Norden Israels und wurde in einer religiösen Mädchenschule erzogen. Als die Frauen im Shuttlebus sitzen, der sie zur Klagemauer fährt, erklärt sie augenzwinkernd das Ziel fürs gemeinsame Gebet an der heiligen Stätte.

«Wir werden heute hoffentlich aus der echten Torah vorlesen», sagt sie. Alle wissen, was sie meint: Gemäss orthodoxer Tradition dürfen nur Männer öffentlich aus der Bibel vorlesen. Um es ihnen gleichzutun, müssen die Frauen die Heilige Schrift hineinschmuggeln.

Wenn Frauen an der Klagemauer singen, ist die Hölle los

Rund zehn Minuten dauert die Fahrt bis zum Eingang zur Klagemauer. Linda Avitan, Vorstandsmitglied der «Frauen der Mauer», ist aufs Schlimmste gefasst. «Hoffentlich geht alles gut», sagt die konservative Jüdin, als der Bus vor dem Eingang zur Klagemauer anhält. Seit 28 Jahren macht sie diesen monatlichen Protest mit und weiss, wie aggressiv die Stimmung gegen die Frauen werden kann.

Sicherheitskontrolle vor der Klagemauer.
Legende: Sicherheitskontrolle vor der Klagemauer in Jerusalem mit getrennten Eingängen für Männer und Frauen. An der Klagemauer und auch in den meisten Synagogen der Welt beten Frauen und Männer voneinander getrennt. SRF

Die Sicherheitskontrolle vor der Klagemauer hat zwei Eingänge: einen für Männer und einen für Frauen. Einige der Frauen stellen sich demonstrativ in die kürzere Schlange vor dem Männereingang. Die Sicherheitsbeamten durchsuchen die Handtaschen der Frauen gründlich und nehmen Yochi Rappeport eine leere Torah-Hülle weg. Diese ist empört: «Frauen verwehren sie den Zugang zur Heiligen Schrift – sogar eine leere Bibel-Hülle ist für sie gefährlich. Aber Protestplakate gegen uns lassen sie durch!»

«Yochi, hau ab!», rufen zwei ultraorthodoxe Jugendliche. Ein Sicherheitsbeamter warnt die Frauen eindringlich. «Stellt euch hinter die Abschrankung, sonst kann ich euch nicht beschützen!», sagt er. Die Frauen wollen jedoch nicht hinter ein Gitter am Rande der Klagemauer, nur weil sie nicht nach Vorschrift beten. Sie stellen sich mitten unter die streng religiösen Frauen und beginnen zu singen.

Ab diesem Moment ist es mit der heiligen Ruhe an der Klagemauer vorbei. Aus dem Bereich, wo die Männer getrennt von den Frauen beten, kommt ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert. Auch die streng-religiösen Frauen beginnen laut zu protestieren: Singen empfinden sie als Bruch ihrer Tradition.

«Diese Frauen schaden dem Judentum mehr als der Holocaust»

 «So können wir nicht beten», sagt die Schülerin einer religiösen Mädchenschule. «Sie wollen provozieren. Für ein religiöses Mädchen wie mich ist das so verletzend, dass ich jetzt nach Hause gehe, um zu weinen!»

Jüdische Frauen beim «Rosch Chodesch»-Gebet
Legende: Jüdische Frauen, viele davon aus religiösen Ulpana-Mädchenschulen, beim «Rosch Chodesch»-Gebet zum Anfang des jüdischen Monats. Diese Frauen fühlen sich durch die protestierenden «Frauen der Mauer» gestört, weil sie ihre Traditionen verletzen. SRF

Nicht nur, dass diese jüdischen Frauen anders beten als sie, verletzt die 18-Jährige. «In Amerika heiraten diese Reform-Frauen Nicht-Juden. Mit ihrer Assimilierung schaden sie dem Judentum mehr als der Holocaust», sagt die Schülerin. «Sie hören nicht auf die Rabbiner und die Torah, weil sie uns ihre Lebensart hier in Israel aufdrücken wollen!»

Ich kann nicht zulassen, dass die radikalen Eiferer bestimmen, was jüdisch ist!
Autor: Yochi Rappeport Direktorin der Frauenorganisation

Gegen den ungeheuren Vorwurf, die Frauen der Mauer würden das jüdische Volk quasi auslöschen, nur weil sie anders als Ultraorthodoxe beteten, wehrt sich Yochi Rappeport vehement. «Bei uns machen Frauen mit ganz unterschiedlichem religiösen Hintergrund mit, auch Orthodoxe und Konservative. Ausserdem belebt die Reformbewegung das Judentum auch!»

Die Direktorin der Frauenorganisation bezeichnet sich selbst als orthodox. «Aber ich kann nicht zulassen, dass die radikalen Eiferer bestimmen, was jüdisch ist!»

Frauen diskutieren miteinander.
Legende: Streng religiöse Jüdinnen empfinden die monatliche Protestaktion der «Frauen der Mauer» als verletzend. Manchmal reagieren sie gewalttätig auf die Provokation, manchmal kommt es aber auch zur Diskussion zwischen ihnen und den protestierenden Frauen. SRF

«Sie jagen uns, mit Feuer in ihren Augen!»

Die Männer drehen den Lautsprecher auf, aus dem der Rabbiner betet, um die singenden Frauen zu übertönen. Plötzlich heben diese eine Tora-Schriftrolle hoch. Wer die Heilige Schrift zur Klagemauer geschmuggelt hat, sagen sie nicht.

Die Direktorin der jüdischen Frauenorganisation «Women of the Wall» hebt eine echte Tora-Schriftrolle hoch.
Legende: Yochi Rappeport, die Direktorin der jüdischen Frauenorganisation «Women of the Wall» hebt eine echte Tora-Schriftrolle hoch. Diese ist nach orthodoxer Tradition den jüdischen Männern vorbehalten. Dass die Frauen aus der Heiligen Schrift beten, ist für streng Religiöse eine Provokation. SRF

Aber nach dieser Provokation müssen die Frauen die Klagemauer unter Polizeischutz verlassen – ein Spiessrutenlauf. Trotz Polizeikordon gelingt es einigen Männern, die Frauen aus nächster Nähe zu bedrohen.

«Eure Provokationen sind hässlich - und ihr seid erst noch hässliche Frauen! Zur Hölle mit euch!», ruft ein älterer ultraorthodoxer Mann. Die Polizei kann die wütende Menge kaum zurückdrängen. Die Frauen schaffen es schliesslich, unversehrt in den Bus einzusteigen.

«Heute war es schlimmer als sonst. Die Polizei hat uns weniger gut abgeschirmt, die Leute jagten uns, mit Feuer in den Augen!», sagt Linda Avitan. Dieser Gefahr setzen sich die Frauen der Mauer seit 34 Jahren aus. Verändern konnten sie die Regeln für die Geschlechtertrennung an der Klagemauer jedoch kaum.

Zwar ging die religiöse Instanz, die für die Klagemauer zuständig ist, 2016 auf einen Kompromissvorschlag ein. Demnach soll ein Gebetsteil geschaffen werden, wo nicht traditionell orientierte Juden und Jüdinnen gemeinsam beten dürfen. Bis heute hat sich jedoch keine israelische Regierung an die konkrete Umsetzung gewagt. Zu umstritten ist der schrille Frauenprotest an der Klagemauer – selbst unter jüdischen Feministinnen.  

«Diese Frauen verkennen die tiefe Bedeutung der Klagemauer»

Einat Ramon ist Dozentin für jüdisches Denken und Frauenstudien am Schechter Institute in Jerusalem. Ihr ist nicht klar, warum die Frauen ausgerechnet an der Klagemauer gegen Geschlechterdiskriminierung kämpfen.

Die Klagemauer und die «Frauen der Mauer»

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Die Klagemauer in der Altstadt von Jerusalem – auch «die westliche Mauer» oder «Kotel» genannt – ist eine der heiligsten jüdischen Gebetsstätten. Oberaufsicht über diese hat die Western Wall Heritage Foundation, eine Stiftung, die 1988 vom israelischen Religionsministerium eingesetzt wurde.

Die Bedeutung der Klagemauer geht auf den vor rund 2000 Jahren zerstörten zweiten jüdischen Tempel auf dem Tempelberg zurück, davon übrig blieb nur die westliche Mauer. Die Klagemauer steht zwar auch nicht-jüdischen Besuchern offen. Diese werden gebeten, die geltenden Regeln zu beachten, zu denen getrennte Gebetsabschnitte für Männer und Frauen gehören.

Die Organisation «Women of the Wall» gibt es ebenfalls seit 1988. Jüdinnen aus Israel und anderen Ländern verlangen von den religiösen Behörden die Anerkennung ihrer Gottesdienste. Dass alleine jüdisch orthodoxe Männer bestimmen, was jüdische Tradition sei, empfinden sie Frauen und liberaleren Jüdinnen und Juden gegenüber als diskriminierend. Die Rabbiner und die «Frauen der Mauer» haben sich schon vor Jahren auf einen Kompromiss geeinigt – bisher hat ihn jedoch keine israelische Regierung umgesetzt.

«Diese Frauen verstehen die tiefere, mystische Bedeutung der Klagemauer nicht», sagt sie. Vor 2000 Jahren sei der zweite jüdische Tempel zerstört worden – bis auf die Klagemauer. Jahrhundertelang, bis 1967, hätten Juden und Jüdinnen ums Recht kämpfen müssen, an der Klagemauer beten zu dürfen. Die Mehrheit in Israel sehe die streng orthodoxen Juden als Bewahrer dieses heiligen Ortes. Ihre Art zu beten, selbst die traditionelle Trennung von Männern und Frauen, gehöre für die meisten Juden und Jüdinnen einfach zur Klagemauer.

orthodoxen Juden
Legende: Die orthodoxen Juden, die ihr Leben dem Studium der Heiligen Tora widmen und die Regeln an der Klagemauer bestimmen, sorgen laut Dozentin Einat Ramon dafür, dass die Klagemauer ein lebendiger religiöser Ort bleibt. Für die «Frauen der Mauer» verhindern sie Gleichstellung – an der Klagemauer und in der israelischen Gesellschaft. SRF

«Wenn man nun fordert, dass Frauen an der Klagemauer dasselbe tun dürfen wie Männer, zerstört man die delikate Balance zwischen dem streng Religiösen und dem Weltlichen in Israel», sagt die Dozentin Einat Ramon. Diese Balance sei essenziell für den Zusammenhalt Israels. Trotz streng religiöser Regeln stehe die Klagemauer zudem der ganzen Welt offen. «Es besteht die Angst, die Klagemauer würde als lebendiger religiöser Ort sterben, wenn dort jedes beliebige Ritual erlaubt würde.»

Linda Avitan vom Vorstand der Frauen der Mauer sieht das anders. Die heftige Reaktion auf ihre Art zu beten zeige, dass Frauen um ihren Platz kämpfen müssen. «Eine Offizierin durfte an der Klagemauer nicht einmal an der Vereidigung ihrer Soldatinnen sprechen! Wir wollen verhindern, dass solcher Extremismus in der israelischen Gesellschaft überhandnimmt», sagt Linda Avitan. Die anderen Frauen sind bereits wieder zur Arbeit oder nach Hause gegangen – bis zum nächsten «Rosch Chodesch»-Protest.

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandredaktion von Radio SRF.

Hier finden Sie weitere Artikel von Susanne Brunner und Informationen zu ihrer Person.

Echo der Zeit, 30.06.2022

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