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Nach dem Abzug der Russen Die Stadt Cherson ist ein Schatten ihrer selbst

Vor dem Abzug scheinen sich die Russen skrupellos in der Stadt bedient zu haben. Sie nahmen alles mit, auch Kinder.

Tetiana Popova ist in den letzten Wochen und Monaten an viele Orte gereist, die kurz davor von den ukrainischen Streitkräften zurückerobert worden waren. Doch die Szenen in Cherson hätten sie trotzdem überrascht, sagt die erfahrene ukrainische Journalistin am Telefon, und erzählt vom Auftritt von Präsident Wolodimir Selenski in der Stadt, den sie miterlebt hat. «Es fühlte sich an, wie ein Konzert mit Rockstars. Und die Stars waren Selenski, die Streitkräfte und der Armeechef.»

Kein Strom, ausser im Stadtzentrum

Doch die Stadt ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Insgesamt, so schätzt man, sind heute nur noch rund 70'000 Menschen in der Stadt, von 290'000 vor dem Krieg.

Sie lebten unter prekären Bedingungen, so Popova. Es gebe keinen Strom, ausser im Stadtzentrum, wo man Generatoren aufgestellt habe. Internet und Mobilfunk funktionierten schlecht, Probleme gebe es auch mit der Lebensmittelversorgung. Und es mangelt an Trinkwasser. Denn die Russen hätten vor ihrem Abzug die städtische Energieinfrastruktur und die Wasserversorgung zerstört.

«Sie stehlen alles» 

Und auch in Cherson – wie in den anderen besetzten Gebieten – plünderten die russischen Truppen. «Sie stehlen alles. Sie kommen in die Häuser und nehmen Geld, Waschmaschinen, Autos, alles was sie wollen.» Es gibt sogar Berichte darüber, dass Tiere aus dem Zoo von Cherson auf die besetzte Krim verfrachtet wurden. Und aus Museen wurden Werke ukrainischer Künstler entwendet.

Doch Popova spricht auch von geraubten Kindern. Ein Vater habe ihr berichtet, sein 15-jähriger Sohn sei vom Gymnasium für ein Sommercamp auf die besetzte Krim geschickt worden. Er habe nicht mehr zurückkehren dürfen. Allein von diesem Gymnasium seien acht Busse auf die Krim geschickt worden, so Popova. Das ergebe schon etwa 200 Kinder und Jugendliche.

Und ein anderer Zeuge habe erzählt, dass Eltern bestraft worden seien, weil sie ihre Kinder nicht in die russisch geführten Schulen schickten, sondern sie online auf Ukrainisch unterrichten liessen. Auch ihnen seien Kinder weggenommen worden.

Wie viele Kinder und Jugendliche aus Cherson tatsächlich weggebracht wurden, und wie viele es geschafft haben, zurückzukehren, weiss Popova nicht. Aber sie sagt, dass manche Eltern deshalb eingewilligt hätten, vor dem Abzug der Russen Cherson zu verlassen und sich auf russisch kontrolliertes Territorium bringen zu lassen, weil sie hofften, so ihre Kinder wiederzufinden.

Vorwürfe scheinen zu stimmen 

Vorwürfe, dass die Russen ukrainische Kinder verschleppten, hat man in letzter Zeit oft gehört. Unlängst hat auch die UNO ihre Besorgnis darüber ausgedrückt, dass ukrainische Kinder in russische Waisenhäuser gebracht oder von russischen Familien adoptiert worden seien. Für grosses Aufsehen sorgte kürzlich, dass die russische Ombudsfrau für Kinderrechte verkündete, sie selbst habe einen ukrainischen Teenager adoptiert. An den Vorwürfen scheint also einiges dran zu sein.

Was in Cherson während der acht Monate Besatzung alles geschah, wer dafür verantwortlich war und dabei mitgemacht hat, wird wohl erst langsam geklärt werden. Nun herrsche aber vorerst Erleichterung, betont die ukrainische Journalistin. Als Erstes müssen die Probleme mit der Infrastruktur gelöst und Minen entschärft werden. Ausserdem sind die russischen Truppen immer noch nahe am anderen Ufer des Flusses. Der normale Alltag ist in Cherson noch nicht zurück.

Rendez-vous, 16.11.2011, 12:30 Uhr

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