Im Norden des Gazastreifens haben israelische Boden-, Luft- und Seeangriffe begonnen. Nun haben die USA und Israel einen Plan angekündigt, um die Menschen im Gazastreifen mit lebenswichtigen Gütern zu versorgen. Eine private Organisation soll die Verteilung der Hilfsgüter übernehmen: die Gaza Humanitarian Foundation. Manuel Bessler war Delegierter des Bundesrats für humanitäre Hilfe der Schweiz. Er sagt, warum dieser Plan von vielen Seiten abgelehnt wird.
SRF News: Wieso stösst die Gaza Humanitarian Foundation auf Ablehnung?
Manuel Bessler: Dieser Plan ist unter mehreren Gesichtspunkten problematisch. Ein Aspekt ist die Dringlichkeit. Seit mehr als zehn Wochen ist Gaza total blockiert. Es leben dort 2.2 Millionen Leute. Sie brauchen Hilfe, jetzt und heute. Humanitäre Akteure sind vor Ort: das Internationale Rote Kreuz, der Palästinensische Rote Halbmond, die Médecins Sans Frontières und UNO-World-Foodprogramm. Es braucht keine neuen Akteure, die Anwesenden müssen die Möglichkeit haben zu agieren.
Ein zweiter problematischer Aspekt ist die Instrumentalisierung der humanitären Hilfe. Humanitäre Hilfe muss neutral, unparteiisch, unabhängig sein und darf nicht als Instrument einer militärischen oder politischen Überlegung angelegt werden. Ein weiterer problematischer Aspekt ist die rechtliche Beurteilung. Humanitäre Aktionen werden von humanitären Akteuren ausgeführt, das sieht die Genfer Konvention so vor.
Leute, die Bedürfnisse haben, bekommen nur Hilfe, wenn sie den Soldaten genehm sind. Das ist nicht humanitäre Hilfe.
Wer Zugang zu Hilfe will, soll israelische Checkpoints passieren, damit die Hamas keine Hilfsgüter entwenden kann. Ist das vereinbar mit humanitären Grundsätzen?
Hier fängt es an: Das ist eine militärische Überlegung und keine humanitäre. Leute, die Bedürfnisse haben, bekommen nur Hilfe, wenn sie den Soldaten an den Checkpoints genehm sind. Das ist nicht humanitäre Hilfe.
Humanitäre Hilfe muss dort abgegeben werden, wo sie benötigt wird, wo die Leute sind, wo auch Schwache, Ältere, Schwangere und Kinder hinkommen können.
Laut Berichten sollen die Verteilpunkte im Süden platziert werden. Im Norden sind möglicherweise keine Verteilpunkte vorgesehen. Wie interpretieren Sie das?
Hier wird humanitäre Hilfe instrumentalisiert. Momentan ist ein Grossteil der Bevölkerung im Norden. Es ist eine militärische Überlegung, wenn Hilfe nur ganz im Süden verteilt wird. Humanitäre Hilfe muss da abgegeben werden, wo sie benötigt wird, wo auch Schwache, Ältere, Schwangere und Kinder hinkommen können.
Der Gazastreifen ist mehr als 40 Kilometer lang. Wenn Sie gehbehindert sind oder wenn Sie vier, fünf Kinder haben, dann können Sie nicht einfach in den Süden gehen. Deshalb ist das Attribut «humanitär» da fehl am Platz.
US-Präsident Trump will die humanitäre Hilfe generell stärker privatisieren. Was bedeutet es für die humanitäre Hilfe weltweit, wenn dieses Beispiel Schule macht?
Das würde mir grosse Sorgen bereiten, denn dann besteht das Risiko, dass die humanitäre Hilfe zu einem Instrument für nicht-humanitäre Überlegungen wird, zum Beispiel für politische, militärische, vielleicht gar wirtschaftliche Überlegungen. Das ist sicherlich falsch.
Henri Dunant hat in Solferino nicht gefragt, wer zu welcher Partei gehört, sondern er hat geschaut, wer Hilfe braucht.
Es ist wichtig, dass humanitäre Hilfe unabhängig von der Seite, auf welcher der Mensch steht, unparteiisch neutral abgegeben wird. Henri Dunant hat in Solferino allen geholfen, den Italienern wie den Franzosen, und er hat nicht gefragt, wer zu welcher Partei gehört, sondern er hat geschaut, wer Hilfe braucht. Und diesen elementaren Grundsatz humanitärer Hilfe würde ich verletzt sehen.
Das Gespräch führte Iwan Liebherr.