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Krieg in der Ukraine Cassis zu Butscha: «Kriegsverbrechen ist kein Wort der Politik»

Die grausamen Bilder von getöteten Zivilistinnen und Zivilisten im Kiewer Vorort Butscha haben am Wochenende für internationales Entsetzen gesorgt – die Strassen waren übersät von Leichen. Ausländische Staatsoberhäupter oder andere Würdenträger – wie die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock reagierten mit scharfen Worten und benutzten in ihren Stellungnahmen auf Twitter das Wort «Kriegsverbrechen».

Das Aussendepartement (EDA) unter Bundespräsident Ignazio Cassis hingegen sprach im Tweet von «Geschehnissen», worauf Schweizer Politikerinnen und Politiker Cassis kritisierten. Gegenüber SRF News nimmt er nun Stellung.

Ignazio Cassis

Bundesrat

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Ignazio Cassis ist seit 2017 Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Er wurde 1961 geboren, studierte Humanmedizin, promovierte an der Universität Lausanne und machte einen Master in Public Health. Von 1997 bis 2008 war er Kantonsarzt des Tessins. Cassis war dann während zweier Jahre Präsident der Bundeshausfraktion der Liberalen (FDP), der er seit seiner Wahl in den Nationalrat im Juni 2007 angehört. Von 2015 bis 2017 hatte er das Präsidium der Nationalratskommission für soziale Sicherheit und Gesundheit inne. Cassis war im Jahr 2022 Bundespräsident.

SRF News: Sie haben diese Bilder gesehen. Wie reagieren Sie persönlich darauf?

Bundespräsident Ignazio Cassis: Die Bilder mit diesen Gräueltaten haben uns alle erschreckt, auch mich. Ich hätte nie gedacht, im 21. Jahrhundert in Europa noch solche Gräueltaten sehen zu müssen.

Härtere Wortwahl im Ausland – Parteien verlangten Klartext

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Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock schrieb auf Twitter explizit, dass die Verantwortlichen für diese «Kriegsverbrechen» zur Rechenschaft gezogen werden müssten. «Zutiefst erschüttert» von den «grauenerregenden Bildern» in Butscha zeigte sich zudem der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Auch er spricht von einem «Kriegsverbrechen», welches nun unabhängig aufgeklärt werden müsse.

Anders die Schweiz: Das Aussendepartement (EDA) von Ignazio Cassis verzichtete in seiner Stellungnahme auf den Ausdruck «Kriegsverbrechen»: «Dem EDA sind die schrecklichen Bilder aus Butscha bekannt; sie lassen schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht befürchten», verbreitet das EDA auf Twitter.

Dass das EDA in seiner Stellungnahme lediglich schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht «befürchtet», stösst bei Nationalrat und Mitte-Präsident Gerhard Pfister auf Kritik. Er forderte in einem Tweet den Bundesrat dazu auf, «klarere und deutlichere Worte zu den Kriegsverbrechen in der Ukraine zu finden als das EDA». Auch der Aargauer FDP-Nationalrat Thierry Burkart ergriff auf Twitter deutliche Worte. So seien die Bilder aus Butscha ein weiterer Beleg für die schweren russischen Kriegsverbrechen. Er sei tief betroffen und fassungslos. Nun sei der Westen unter Beteiligung der Schweiz gehalten, seine «Sanktionen massiv zu verstärken». Auch SP-Nationalrat Fabian Molina spricht von «Kriegsverbrechen». Wehrlose Menschen würden ermordet. Molina forderte in seinem Tweet zudem: «Die Schweiz muss den Handel mit russischen Fossilen verbieten!» Und schliesslich nimmt auch Beat Flach, Nationalrat GLP, kein Blatt vor den Mund und nennt den russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Kriegsverbrecher.

Die Schweiz hat von Geschehnissen gesprochen, Deutschland von Kriegsverbrechen. Was sagen Sie zu den Forderungen, dass die Schweiz die Ereignisse in Butscha stärker verfolgen sollte?

Als allererstes hat die Schweiz – und das haben wir gestern kommuniziert – eine internationale Untersuchungskommission verlangt. Das ist das Wichtigste in diesem Moment, um Klarheit zu schaffen. Wer sind die Täter? Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

Kriegsverbrechen ist der Entscheid eines Gerichtshofes, nicht ein Wort der Politik.

Beim Vokabular, das man verwendet, ist die Diplomatie immer sehr vorsichtig. «Kriegsverbrechen», das ist der Entscheid eines Gerichtshofes, nicht ein Wort der Politik. Wenn ein normaler Bürger es verwendet, ist es kein Problem. Aber wenn der Bundespräsident dieses Wort benützt, ohne dass ein Gericht es entschieden hat, dann ist dies nicht ganz korrekt.

Nun gibt es Forderungen nach stärkeren Sanktionen, zum Beispiel vonseiten der FDP. Mitte-Präsident Gerhard Pfister will sogar eigenständige Sanktionen der Schweiz. Was sagen Sie dazu?

Stärkere Sanktionen sind durchaus in Erwägung. Die Europäische Union diskutiert sie derzeit. Und wir werden allfällige Sanktionen der EU nochmals ernsthaft überprüfen und allenfalls übernehmen, wie wir es bis jetzt gemacht haben.

Eigenständige Sanktionen aus einem kleinen Land wie der Schweiz haben höchstens symbolischen Charakter.

Eigenständige Sanktionen aus einem kleinen Land wie der Schweiz haben höchstens symbolischen Charakter, weil sie keine Wirkung entfalten können.

Laut dem Embargo-Gesetz könnte die Schweiz auch die Sanktionen eines grossen, wichtigen Handelspartners übernehmen – wie zum Beispiel jene der USA, welche die Öl- und Gaslieferungen aus Russland untersagt haben. Wäre dies eine Möglichkeit?

Grundsätzlich ja. Aber nochmals: Es ist sehr wichtig, dass wir im Herzen von Europa als kontinentale Antwort auf diesen Krieg reagieren, weil wir in der gleichen Schicksalsgemeinschaft wohnen. Und demzufolge müssen wir ähnliche Entscheide treffen, damit erstens die Wirkung gross ist und zweitens wir alle gemeinsam sie tragen können.

Das Gespräch führte Mirjam Spreiter.

Tagesschau, 04.04.2022, 12:45 Uhr ; 

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