Etwa hundert Männer werden im Norden Moskaus in einen Saal getrieben. Es sind Strassenkehrer und Hauswarte, allesamt Mitarbeiter eines staatlichen Diensts: Arbeitsmigranten aus Kirgistan, Usbekistan oder Tadschikistan. Sie müssten jetzt in der russischen Armee dienen, sagt ihnen ein Vorgesetzter.
So beschreibt Menschenrechtsanwältin Walentina Tschupik die Szene, die ihr einer der Männer geschildert hat. Wer nicht sofort den Vertrag unterschreibe, werde ausgeschafft: «Das war natürlich absolut gesetzeswidrig.»
Es ist nur einer von vielen Fällen, die Tschupik bekannt sind. Sie hat sich jahrelang in Moskau für die Rechte von Migrantinnen und Migranten eingesetzt. Im Herbst 2021 wurde Tschupik, die aus Usbekistan stammt, aus Russland ausgeschafft, weil sie angeblich eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt. Heute lebt sie in den USA.
Systematisch ausgebeutet
Seit Jahrzehnten verrichten vor allem Zentralasiaten in den Grossstädten Russlands die Knochenjobs, die Russinnen und Russen lieber nicht tun wollen. Oft werden sie schikaniert und ausgebeutet. Seit Russlands Grossangriff häufen sich Berichte von Migrantinnen und Migranten, die in die Ukraine geschickt wurden.
Zunächst versuchte man die Leute zu täuschen und versprach ihnen für ein Jahr Armeedienst die russische Staatsbürgerschaft, wie Tschupik berichtet. Sie steht mit Dutzenden Betroffenen in Kontakt. Mit der Zeit seien die Rekrutierer dreister geworden. Inzwischen würden frisch Eingewanderten die Armeeverträge mit den Einreisedokumenten untergejubelt.
Dass sie in der Ukraine waren, merkten sie erst, als sie die zerbombten Dörfer sahen.
Einer Gruppe usbekischer Arbeiter wurde erklärt, sie hätten einen Auftrag in «Mariupol in der Region Moskau». Sie kannten Mariupol nicht und unterschrieben: «Dass sie in der Ukraine waren, merkten sie erst, als sie die zerbombten Dörfer sahen», so Tschupik.
Inzwischen würden Migranten in Russland teilweise auch von der Polizei aufgegabelt, auf dem Revier verprügelt und dann gezwungen, einen Armeevertrag zu unterschreiben.
Nicht alle der Zwangsrekrutierten müssen schliesslich an der Front kämpfen, wie Berichte in unabhängigen russischen Medien und aus Zentralasien zeigen: Vielen heben Schützengräben aus oder helfen beim Wiederaufbau von zerstörten Städten wie Mariupol. Auch Frauen sind darunter – sie putzen oder kochen für die russische Armee.
Man betrachtet diese Menschen als Sklaven.
Einige fuhren auch freiwillig in die Ukraine, weil sie sich einen höheren Lohn versprachen. Doch oft werden sie dann kaum bezahlt. Die Fälle illustrieren laut Tschupik, wie Russland seit jeher mit Arbeitsmigranten umgeht: «Sie bekommen Aufgaben, für die sich niemand freiwillig meldet. Faktisch ist es Sklaverei. Denn man betrachtet diese Menschen als Sklaven.»
Herkunftsländer wären gefordert
Die Regierungen der Staaten Zentralasiens kümmerte die russische Ausbeutung ihrer Landsleute lange wenig. Heimatüberweisungen bringen wichtige Devisen, die Auswanderung lindert die Arbeitslosigkeit.
Doch trotz der traditionellen Nähe zu Russland wollen sich die betreffenden Regierungen vom Krieg gegen die Ukraine distanzieren. Usbekistan und Tadschikistan warnen ihre Bürger inzwischen davor, russischen Streitkräften beizutreten: Wer in einer ausländischen Armee diene, riskiere in der Heimat mehrere Jahre Haft.
In einigen Fällen hat die Botschaft Usbekistans schon geholfen, Migranten von Armeeverträgen zu befreien. Letztlich bleibt den Ländern aber nur die Aufklärung ihrer Bürger.