Während des Jugoslawienkriegs in den 1990er-Jahren war Jamie Shea das Gesicht und die Stimme der Nato. Die Pressekonferenzen des Chefsprechers waren fast täglich in den Nachrichtenbulletins. Später war er Vizegeneralsekretär, Planungschef und Zuständiger für neue Risiken.
Sein Wort hat bis heute Gewicht. Für ihn ist klar: Es mag zwar egoistisch sein, wenn sich die Nato in der Ukraine zurückhält und darauf fokussiert, ihre 30 Mitgliedstaaten zu verteidigen – doch es ist realistisch. Das Militärbündnis habe seine Hausaufgaben aber längst nicht gemacht. Mit den paar Tausend Nato-Soldaten vor Ort liessen sich das Baltikum und andere osteuropäische Staaten unmöglich verteidigen.
Militärische Stärke zugunsten Putins
Russland habe Zehntausende von Soldaten allein in Belarus. Die russische Exklave Kaliningrad sei hoch gerüstet. Und auch in der Ukraine dürften noch lange Zeit umfangreiche russische Truppen bleiben. Die militärische Macht-Balance im Osten Europas sei deutlich zugunsten Moskaus. Erst jetzt erwäge die Nato die Stationierung grösserer Verbände, doch das sei noch nicht ausdiskutiert.
Die Angst sorge nun für einen engeren Schulterschluss im westlichen Lager. Russlands früherer Diktator Stalin müsse eigentlich als «Vater der Nato» gelten, Putin dürfe man heute als Retter einer vom Zerfall bedrohten Nato bezeichnen. Die Rückkehr zur Positionierung im Kalten Krieg sei unübersehbar und bedauerlich.
Unglücklicherweise wird die Haltung des Kalten Kriegs wieder stärker.
Nato ist keine Bedrohung
Aus westlicher Sicht sei Russland durch die Nato nicht im Geringsten bedroht, sagt Shea. Viele russische Generäle, die nun vom Kreml zum Krieg gegen die Ukraine genötigt wurden, sähen das auch so. Nicht jedoch Putin und sein engstes Umfeld.
Deshalb tue die Nato gut daran, zwischen direktem Kriegseintritt und blosser Hilfe für die Ukraine zu unterscheiden. Die aus Kiew geforderte Flugverbotszone über der Ukraine wäre ein solcher Kriegseintritt. Bloss Waffen zu liefern, auch Flugzeuge, liege noch unter der Kriegsschwelle.
Besorgniserregend sei, dass Putins Streitkräfte den Krieg dicht an die polnische Grenze herantrügen. Eine russische Rakete könnte damit – allenfalls auch irrtümlich – Nato-Territorium treffen.
Unverzichtbar sei deshalb die vorläufig noch funktionierende Hotline zwischen dem Nato-Oberkommandierenden und dem russischen Generalstabschef. So lasse sich zumindest eine ungewollte Eskalation vermeiden.
Atomwaffen?
Shea rechnet nicht damit, dass Putin den Einsatz von Atomwaffen erwägt. Er liebe es zwar, mit Atomwaffen zu drohen und zu prahlen. Aber er wisse, was es hiesse, sie einzusetzen.
Putin weiss offensichtlich, dass der Einsatz von Atomwaffen zu einem globalen Konflikt führen würde.
Und es sei keineswegs klar, dass ihm die Armeeführung weiter blind folgen würde, sollte er tatsächlich irrational handeln und Atomwaffen abfeuern wollen, so Shea. Noch handle Putin im Rahmen seiner Logik und seiner Ideologie rational. Auch das bedeute indes für die Ukraine nichts Gutes.
Warten auf die Zeit nach Putin
Wahrscheinlich werde sich Putin weite Teile der Ostukraine und der Schwarzmeerküste einverleiben oder dort von Moskau abhängige Pseudo-Republiken schaffen, so Shea. Nur die Westukraine, allenfalls mit der Hauptstadt Kiew, blieben souverän, doch ohne Meereszugang wirtschaftlich massiv geschwächt.
Viel wolle und werde der Westen kurzfristig nicht tun. Man werde abwarten, bis in Russland die Post-Putin-Ära beginne und damit hoffentlich eine wieder etwas demokratischere Phase. Erst dann könne man über die Wiederherstellung einer ungeteilten, unabhängigen Ukraine reden, schätzt der langjährige politische Vordenker der Nato.
Eine andere, erfreulichere Option sehe ich nicht.