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Krieg in der Ukraine Putins streitbare Sicht auf die Geschichte

Die Ukraine sei ein russisches Produkt, als eigener Staat habe sie kein Existenzrecht, sagt Wladimir Putin. Doch Putins Sicht sei nur eine Perspektive von mehreren möglichen, betont der Historiker Fabian Baumann. Sowieso sei für die Zukunft der Ukraine weniger ihre Geschichte entscheidend, als das, was die Menschen dort heute wollten.

Fabian Baumann

Historiker

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Der Historiker Fabian Baumann forscht momentan an der Universität von Chicago in den USA. Die Geschichte der Ukraine ist das Spezialgebiet des Baslers.

SRF News: Hat Putin recht, wenn er behauptet, die Ukraine verdanke ihre Existenz Lenin und dem kommunistischen Russland?

Fabian Baumann: Es ist nicht völlig falsch, dass Lenin einen wichtigen Einfluss auf die Entstehung der Ukraine als modernen Staat ausgeübt hat. Er baute die Sowjetunion als Konglomerat nationaler Republiken auf, und eine davon war die Ukraine. Erstmals in der Geschichte erhielt diese so fest definierte Grenzen. Allerdings ist es eine unzulässige Verkürzung zu behaupten, die Ukraine sei als eigenständiger Staat ausschliesslich auf Lenin zurückzuführen.

Es ist eine unzulässige Verkürzung zu behaupten, die Ukraine sei als eigenständiger Staat ausschliesslich auf Lenin zurückzuführen.
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Putin beschuldigt Michail Gorbatschow, er habe bei der Auflösung der Sowjetunion 1991 die Möglichkeit gehabt, die Ukraine Russland zuzuschlagen. Stimmt das?

Nein. Gorbatschow hat die Auflösung der Sowjetunion zugelassen. Was man ihm allenfalls vorwerfen kann ist, dass der Umgang mit der Tschernobyl-Katastrophe 1986 viele Ukrainerinnen und Ukrainer definitiv vom Sowjetregime entfremdet hat. Sie hatten den Eindruck, eine Regierung in Kiew hätte die Katastrophe wahrscheinlich besser gehandhabt.

Demonstranten und ukrainische Fahnen.
Legende: Am Abend, als Putin die Anerkennung der Regionen Donezk und Luhansk verkündete, demonstrierten viele Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Mariupol – sie gehört zum Oblast Donezk – ihre Zugehörigkeit zur Ukraine. Keystone

Seit wann fühlen sich die Menschen im Land als Ukrainerinnen und Ukrainer?

Eine moderne Nationalbewegung bildete sich in der Ukraine im 19. Jahrhundert. So lernten damals viele Intellektuelle diese ursprünglich bäuerliche Sprache, um sich so als Teil der ukrainischen Nation zu fühlen. Sie versuchten auch, die Sprache zu einer Hochsprache zu entwickeln. Die russischsprachigen Eliten in der Ukraine waren dagegen eher Anhänger der Theorie einer dreieinigen russischen Nation, die Russen, Ukrainer und Belarussen umfasste.

Wenn man Russen und Ukrainer als ein Volk bezeichnet – wie das Putin tut – ist das in etwa so, wie wenn man sagen würde, Deutsche und Schweizer seien ein Volk?

Das ist durchaus vergleichbar. Historisch wäre auch eine Entwicklung möglich gewesen, welche die Schweiz zu einem Teil Deutschlands gemacht hätte. Doch sie ist es nicht geworden. Ähnlich wie in der Schweiz gibt es in der Ukraine heute einen grossen Konsens darüber, dass das Land ein unabhängiger Staat sein soll. Da spielt es auch keine Rolle, dass beide Länder im Mittelalter in der Kiewer Rus vereint waren.

Ganz ähnlich wie in der Schweiz gibt es in der Ukraine heute einen grossen Konsens darüber, dass das Land ein unabhängiger Staat sein soll.
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Bilden die beiden Gebiete Donezk und Luhansk da eine Ausnahme?

Diese Gebiete sind stark sowjetisch geprägt und bilden tatsächlich eine Ausnahme in der Ukraine. Doch bei der Abstimmung 1991 waren auch die Menschen in diesen beiden Gebieten deutlich für eine Unabhängigkeit. Später stieg zwar ihre Frustration über die Kiewer Regierung. Doch daraus einen russischen Anspruch abzuleiten, ist problematisch. Putin kann nicht einfach sagen, dass diese Gebiete zu Russland zurückwollen.

Kann man also sagen, dass die Geschichte nicht dazu taugt, um den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu lösen?

Das sehen Sie richtig. Nicht die gemeinsame oder getrennte Geschichte ist entscheidend. Entscheidend ist, was die Menschen in der Ukraine wollen. Das gilt es zu respektieren.

Das Gespräch führte Roger Brändlin.

Echo der Zeit, 23.02.2022, 18:00 Uhr ; 

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