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Krieg in der Ukraine So schätzen US-Strategen und Politiker die Lage ein

Der Ukraine-Krieg führt im US-Kongress und in Thinktanks zu selbstkritischen Debatten über die letzten Jahre und Monate.

Diese Woche im US-Senat: An einer Experten-Anhörung der Militärkommission stellen die Abgeordneten Fragen. Und die Art, wie sie es tun, macht klar, was sie denken: Die USA hätten mehr unternehmen sollen, um die Ukraine zu beschützen.

 «Warum haben wir nicht die Waffen geliefert, um die unsere Freunde in der Ukraine gebeten haben», fragt etwa der republikanische Senator Roger Wicker.  «Wir haben uns selber abgeschreckt, wir hatten Angst, eine Krise heraufzubeschwören», antwortet Heather Conley, Russlandexpertin und Präsidentin der einflussreichen transatlantischen Denkfabrik «German Marshall Fund».

Die Falken rufen

Der Demokrat Joe Manchin will wissen, wie der russische Konvoi nach Kiew noch gestoppt werden kann. Die Antwort kommt vom Direktor der Ronald Reagan Stiftung, dem Verteidigungsstrategen Roger Zakheim: In dem wir durch Sabotageakte die Strassen zerstören – mit bemannten oder unbemannten verdeckten militärischen Einsätzen.

Präsident Joe Biden schliesst einen aktiven Kriegseingriff kategorisch aus. Doch die Mitglieder der Militärkommission rasseln mit den Säbeln. Die Falken rufen – nach mehr Waffen, einem massiv höheren Militärbudget und auch nach mehr Sanktionen.

In Washington bildet sich auch ausserhalb von Militärkreisen gerade die Meinung heraus, dass die USA zu schwach auf die Gefahr Putin reagiert haben. 

Ex-Diplomat: «Gefahr Putin» unterschätzt

John Herbst von der Denkfabrik Atlantic Council ist einer der angesehensten Ukraine-Kenner in Washington. Der ehemalige US-Botschafter (2003-2006) in Kiew warnt seit vielen Jahren, dass Putins Appetit auf die Ukraine ein massives Sicherheitsrisiko für Europa und die USA darstelle. Er wäre froh gewesen, hätte er falsch gelegen, sagt Herbst. Zudem habe auch er nicht erwartet, dass Putin mit solcher Gewalt in die Ukraine einmarschiere. Man mache Fehler.

Und auch die Biden-Regierung habe Fehler gemacht, so Herbst: Sie habe das naive Ziel verfolgt, eine stabile und transparente Beziehung mit Putin aufzubauen, dem weltweit gefährlichsten Provokateur. Sie habe geglaubt, seine Aggression diplomatisch abfedern zu können.

Und diese Naivität habe die US-Regierung daran gehindert, die Ukraine für den Angriffsfall zu bewaffnen und die Nato zu verstärken. Dabei sei eigentlich seit 2007 klar, dass der russische Präsident Wladimir Putin eine aggressive Aussenpolitik verfolge – mit dem Ziel, die Länder des ehemaligen Warschauer Pakts wieder unter russische Kontrolle zu bringen.

Schlechte Prognose für Putin

Doch dank des Einmarsches in die Ukraine könne Putin seinen gross-russischen Traum begraben, sagt Herbst. Denn der Angriff auf die Ukraine sei für Putin nicht gut gelaufen. Die Ukrainer würden sich wehren, und die Stimmung in Europa habe gedreht. Putin habe Deutschland als zugewandtes Land verloren. Und die grösste Quelle seines Einflusses auch: die Wirtschaftsbeziehungen im Westen.

In sechs Monaten werden Putins Probleme erheblich sein.
Autor: John Herbst Ehemaliger US-Botschafter in Kiew, Denkfabrik Atlantic Council

Herbst hält es für möglich, dass Putin in der Ukraine nun ein Blutbad anrichte und zehntausende Menschen ermorde. So werde Putin zwar militärische Siege feiern, aber der Widerstand in der Ukraine werde nicht nachlassen. Und letztlich werde Putin einen hohen Preis bezahlen: Länger als sechs Monate überlebe dieser eine ukrainische Résistance nicht, ist Herbst überzeugt. Und wer weiss – vielleicht liegt der Ukraine-Experte diesmal nicht falsch.

Echo der Zeit, 03.03.2022, 18:00 Uhr

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