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Krieg in der Ukraine Staudamm-Zerstörung: «Es ist eine Tragödie für die Bevölkerung»

Am frühen Dienstagmorgen ist der grosse Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine nahe der Stadt Cherson zerstört worden. Seither überfluten Wassermassen weite Gebiete, wo Zehntausende Menschen leben. Noch gebe es wenig gesicherte Daten, sagt ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz in der Ukraine.

Christian Wehrschütz

Journalist beim ORF

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Der österreichische Journalist arbeitet für den ORF. Sein Spezialgebiet umfasst vor allem die Entwicklungen in Osteuropa und dem Balkan. Der preisgekrönte Journalist spricht unter anderem Russisch, Ukrainisch und Serbisch.

SRF News: Wie ist die Lage in den überfluteten Gebieten, was weiss man über die Zahl der Opfer?

Christian Wehrschütz: Wir haben bisher keinen Zugang zu den Überschwemmungsgebieten. Mein Kameramann fuhr nach Cherson und konnte dort die Evakuierung von 40 Personen mit der Bahn im dortigen Bahnhof filmen, bekam aber keinen Zugang zur Stadt.

Ukrainische Offizielle sprachen am späten Vormittag von 1900 zerstörten Häusern, die unter Wasser stehen. Bilder von Menschen, die auf Dächern sitzen und evakuiert werden, sind im Umlauf. Die Bergungen sind offenbar im Gang, angeblich sind viele ukrainische Freiwillige vor Ort. Die Flutwelle pflanzt sich auf dem Dnjepr fort. Der Bürgermeister von Nowa Kachowka meldete, das Wasser in der Stadt sei bereits am Sinken.

Ist die Trinkwasserversorgung von Cherson gefährdet?

Es ist nicht nur die Trinkwasserversorgung im Landkreis von Cherson gefährdet. Auch in der Stadt Mykolajiw soll es bereits Rationierungen von Trinkwasser geben. Die Supermarktketten wurden aufgerufen, mehr abgefülltes Wasser zur Verfügung zu stellen.

Man geht davon aus, dass die Wellenbewegungen bis zu vier Tage nach dem Bruch des Dammes andauern. Dann beginnt das Wasser zu sinken. Nach zehn Tagen erwarten Experten wieder den ursprünglichen Wasserstand. Erst dann wird man die eigentlichen Auswirkungen sehen. Es gibt bisher auch keine seriösen Zahlen zu Vermissten und Todesopfern. Geschätzt wird, dass 18‘000 bis 22‘000 Menschen in den Dörfern der Überschwemmungsgebiete gelebt haben.

Überschwemmte Strasse in Cherson.
Legende: Überschwemmungen in Cherson am 6. Juni 2023. imago images/

Wie funktionieren die Evakuierungen logistisch? Sind im Krieg Rettungskräfte verfügbar?

Ja, es gibt eigene Rettungsabteilungen. Dazu stellt man zivile Autobusse zur Verfügung. Die Überschwemmungsgebiete werden mit Motorbooten abgefahren, um die Leute aus den Häusern zu holen. Der Krieg erschwert alles zusätzlich. Und es ist eine zusätzliche Tragödie für die Bevölkerung, weil auch Cherson wieder beschossen wurde. Die Überschwemmungen haben auf jeden Fall keine Auswirkungen darauf, dass der Krieg nicht an anderen Frontabschnitten weitergehen würde.

Wohin werden die Menschen gebracht?

Nach Norden. Viele haben Verwandte. Dazu gibt es von den grossen Fluchtwellen immer noch Auffanglager und Notunterkünfte, die bezogen werden können. Doch auch dazu gibt es keine verlässlichen Zahlen, wie viele Personen das sind.

Weiss man schon etwas über die Folgen für die Umwelt?

Da zeichnet sich offensichtlich ein grosses Problem für die Landwirtschaft ab. Laut dem ukrainischen Landwirtschaftsministerium sind 94 Prozent des Bewässerungssystems in der Region Cherson praktisch zerstört. Grosse Trockenheit könnte die Folge sein. Katastrophal ist es auch für den Fischbestand. Nicht zuletzt könnte die Fauna des Schwarzen Meeres durch die Fluten leiden.

Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.

Echo der Zeit, 07.06.2023, 18:00 Uhr ; 

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