Die Stadt Sjewjerodonezk sei zu 70 Prozent unter der Kontrolle der Russen, meldet die ukrainische Armee. Was das für den Kriegsverlauf bedeutet, erklärt Journalist Christian Wehrschütz.
SRF News: Was können Sie zur aktuellen Lage von Sjewjerodonezk aus ukrainischer Sicht im Detail sagen?
Christian Wehrschütz: Aus den Berichten und Veröffentlichungen beider Kriegsparteien, plus Recherchen plus Geheimdienstberichten kann man sich ein Bild machen. Dort gibt es einen Häuserkampf. Die ukrainischen Soldaten sind in einer extrem schwierigen Position.
Für die Zivilisten ist die jetzige Situation in Sjewjerodonezk eine Katastrophe.
Die sogenannte russische Dampfwalze ist viel stärker als die Ukrainer insgesamt. Strategisch gesehen ist die Stadt Sjewjerodonezk nicht wichtig. Politisch ja, weil man dann sagen müsste, man habe den gesamten Oblast, den Landkreis von Lugansk verloren. Der Rückzug der 2000 bis 3000 ukrainischen Soldaten wird durch die vielen zerstörten Brücken wahrscheinlich nur unter schweren Verlusten und ohne schweres Gerät möglich sein. Da ist der Druck der Russen enorm.
Es ist derzeit nicht möglich, Zivilpersonen aus oder Hilfsgüter in die Stadt hineinzubringen. Was wissen Sie über die humanitäre Situation in der Stadt?
Einerseits hat man natürlich alle Personen evakuiert, die evakuierbar waren. Wie viele Zivilpersonen tatsächlich noch in Sjewjerodonezk sind, wissen wir nicht.
Es mag ironisch oder zynisch klingen, aber für die Zivilbevölkerung ist es besser, dass die Kämpfe beendet sind, wer auch immer sie gewinnt.
Für die ist die jetzige Situation eine Katastrophe. Wenn es so abläuft, wie es in vielen anderen Städten abgelaufen ist, dann wird es da kein Wasser, keinen Strom und wahrscheinlich auch keine Lebensmittel mehr geben. Die Leute sitzen in Luftschutzkellern, möglicherweise bereits tagelang. Es mag ironisch oder zynisch klingen, aber für die Zivilbevölkerung ist es besser, dass die Kämpfe beendet sind, wer auch immer sie gewinnt.
Die russische Armee kommt in der Region stetig vorwärts. Es ist aber ein langsamer Vormarsch. Warum?
Das Ganze ist ein Abnutzungskrieg. Man darf nicht vergessen, dass die russische Seite zu Beginn dieses Krieges sehr hohe Verluste hatte. Diese traten ein, bevor die Strategie umgestellt wurde: Man fährt nun nicht mehr mit Panzerverbänden vor, sondern schiesst zuerst mit der Artillerie alles zusammen, was auf der gegnerischen Seite da ist. Es gibt verschiedene Hinweise, dass auch die Russen nur mit Wasser kochen.
Erstens: Die Separatisten in Donezk und Lugansk fangen teilweise Männer auf den Strassen ab, stecken sie in Uniform und geben ihnen einen Schnellkurs. Danach schicken sie sie an die Front. Das hat zu Protesten von Familienangehörigen geführt. Zweitens haben wir in Russland eine intensive Debatte, ob es eine Mobilmachung geben soll. Auch hier sehen wir, dass viele der Reservisten keine wirkliche Kampferfahrung haben.
Die grosse Stärke der russischen Seite ist die erdrückende Überlegenheit bei Artillerie und in der Luftwaffe. Ob das durch westliche Waffenlieferungen ausgleichbar ist, ist eine offene Frage. Falls die Russen Sjewjerodonezk und die Zwillingsstadt Lyssytschansk erobern, brauchen sie nachher eine Kampfpause.
Falls Sjewjerodonezk vom russischen Militär erobert würde: Was würde das für die militärische Situation im Donbass bedeuten?
Russland hätte ein abgespecktes Kriegsziel erreicht, nämlich die Eroberung des Landkreises von Lugansk. Noch nicht erreicht hätte man die Eroberung aller Städte im Landkreis von Donezk. Die Frage ist, wo die Ukraine Stellung beziehen würde. Soweit ich gesehen habe, ist die Ukraine für eine neue Verteidigungslinie nicht sehr gut vorbereitet.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.