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Krieg in der Ukraine Was bedeutet der Kriegszustand für die annektierten Gebiete?

Kremlchef Putin verhängt den Kriegszustand für Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischja. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Was ist passiert? Der russische Präsident Wladimir Putin hat in den vier kürzlich annektierten ukrainischen Gebieten Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischja den Kriegszustand verhängt. Ein entsprechendes Dekret habe er bereits unterschrieben, sagte Putin bei einer im Staatsfernsehen übertragenen Ansprache im nationalen Sicherheitsrat.

Was bedeutet der Kriegszustand für die betroffenen Regionen? Mit der Verhängung des Kriegszustands gehen erweiterte Machtbefugnisse für die russischen Besatzungsverwaltungen in den vier annektierten Gebieten einher. Damit wächst die Gefahr, dass die Männer zum Dienst in der russischen Armee gezwungen werden und gegen ihre Landsleute kämpfen müssen, schreibt die Deutsche Presse-Agentur. Ausserdem können Bewohner nun zur Arbeit in der Rüstungsindustrie gezwungen oder an Reisen gehindert werden. Möglich sind dem Dekret zufolge jetzt auch offiziell die Einführung von Militärzensur oder das Abhören privater Telefongespräche. Gemäss dem russischen Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow werden auch Checkpoints eingerichtet. Möglich seien auch Festnahmen von bis zu 30 Tagen, die Beschlagnahme von Eigentum, die Internierung von Ausländern sowie Reisebeschränkungen für russische Staatsbürger ins Ausland.

Einschätzung von Russland-Korrespondentin Luzia Tschirky

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«Die Ausrufung des Kriegszustands ist eine Reaktion von Wladimir Putin auf die Erfolge der ukrainischen Armee an der Front. Unmittelbar für den weiteren Kriegsverlauf dürfte die heutige Erklärung keine Auswirkungen haben, doch die Menschen in den von Russland besetzten Gebieten sind ab heute der Besatzungsmacht noch stärker ausgeliefert als zuvor. Besonders betroffen dürfte die Region Cherson sein, wo die russische Armee in den vergangenen Wochen durch die ukrainische Gegenoffensive unter Druck geraten ist.

So machte auch die russische Armee in den vergangenen Tagen Andeutungen, dass die Kontrolle über die seit den ersten Kriegstagen besetzte Stadt Cherson verloren gehen könnte. Eine Evakuierung der Zivilbevölkerung wurde unter dem Vorwand des Schutzes für die Menschen angekündigt. Heute wurde gemäss russischen Quellen auch offiziell mit der Evakuierung aus der besetzten Stadt auf die von Russland bereits seit acht Jahren besetzte Halbinsel Krim begonnen. Von ukrainischer Seite wird befürchtet, dass die Menschen von der russischen Armee als Schutzschild eingesetzt werden könnten, sollte sich die russische Armee denn auch tatsächlich selbst aus der Stadt zurückziehen müssen.

Mit dem heute verkündeten Kriegszustand für vier von Russland besetzte Gebiete der Ukraine haben die russischen Besatzer ein weiteres Mittel in der Hand, um die Lokalbevölkerung auch gegen ihren Willen zu evakuieren. Für Wladimir Putin scheint die Ankündigung vor allem dem Zweck zu dienen, den Druck auf die Lokalbevölkerung zu erhöhen und sich einem Publikum in Russland als entschlossener Präsident zu zeigen. Allen Niederlagen an der Front in der Ukraine zum Trotz.»

Wie begründet Putin die Massnahme? Die Verhängung des Kriegszustands begründete Putin damit, dass Kiew es ablehne, die Ergebnisse der im September abgehaltenen Abstimmungen über einen Beitritt zu Russland anzuerkennen. «Im Gegenteil, der Beschuss geht weiter. Unschuldige Menschen sterben», sagte Putin. Seiner Darstellung zufolge sind Rückeroberungsversuche der Ukraine nun Angriffe auf russisches Staatsgebiet.

Putin hatte Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischja Ende September nach mehreren Scheinreferenden völkerrechtswidrig annektieren lassen. International wird der Schritt nicht anerkannt. Kürzlich hatte die UNO-Vollversammlung in einer Resolution mit grosser Mehrheit Russland aufgefordert, den Anschluss der teils besetzten Regionen rückgängig zu machen. Der UNO-Beschluss ist völkerrechtlich allerdings nicht bindend.

Wie reagiert die Ukraine? Ungeachtet des von Putin verhängten Kriegszustands will Kiew die Rückeroberungsversuche zur Befreiung besetzter ukrainischer Gebiete fortsetzen. Der Schritt aus Moskau ändere nichts, teilte der Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, auf Twitter mit. «Die Einführung des Kriegsrechts in den besetzten Gebieten durch die Russische Föderation sollte nur als Pseudolegitimierung der Plünderung des Eigentums der Ukrainer (...) betrachtet werden», schrieb er. Die Ukraine werde die Befreiung der von Russland besetzten Territorien fortsetzen.

Wie ist die militärische Lage? In der Ukraine war das russische Militär zuletzt unter Druck geraten und stellt sich jetzt auf eine ukrainische Grossoffensive in Cherson ein. Der Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine sagte, die Lage sei schwierig. Zugleich forderten die russischen Behörden die Bevölkerung in Cherson auf, sich in Sicherheit zu bringen.

SRF 4 News, 19.10.22, 15 Uhr ; 

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