«Viva L'Italia» von Francesco de Gregori. 1979. Ein Evergreen, der an Sonnenschirm, Sonnencreme und Sonnenferien im Bel-Paese erinnert. Aber wenn man sich den Text genau anhört, handelt er von einem gespaltenen Italien – halb Garten, halb Gefängnis. Ein Italien, das arbeitet, sich verliebt und an sich verzweifelt.
43 Jahre später ist es noch immer dasselbe Italien. Ein junges Paar aus dem pulsierenden Nordosten des Landes kann das Italien zum Verzweifeln am eigenen Beispiel eindrücklich illustrieren. Giacomo und Chiara, 38 und 37 Jahre.
Kürzlich kaufte das Paar eine Wohnung für rund 38’000 Euro. Die Nebenkosten für Notar, Makler, Geometer, die ganze Bürokratie beliefen sich auf 10'000 bis 12’000 Euro. 30 Prozent des Kaufpreises kamen obendrauf. Das ist viel in einem Land, in dem der Nettodurchschnittslohn rund 1700 Euro beträgt. Doch für Giacomo und Chiara gab es keine Alternative: In der Gemeinde gibt es nur einen Notar.
Wirtschaftszweig Bürokratie
Die Bürokratie sei einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Italiens neben dem Tourismus, sagt Giacomo. In der Tat. In der Schweiz gibt es 5182 Gesetze auf Bundesebene. In Italien 110’000. Italien sei kein Rechtsstaat, sondern ein Staat der Rechtsunsicherheit, sagt Giacomo. Frage man einen Anwalt um Rat, antworte er mit fast 100-prozentiger Sicherheit: «Ich weiss es nicht».
Eigentlich ideal für einen Juristen wie Giacomo. Aber nur eigentlich. Man müsse auch aus der richtigen Familie stammen, sagt er. Giacomo wurde in Norditalien geboren, ist dort aufgewachsen, seine Familie stammt aber aus dem Süden. Das hört man. «Du bist keiner von uns», kriegt er gar beim Bäcker zu hören, «deine Eltern sind nicht hier geboren.»
Ein Fremder im eigenen Land, sagt Giacomo. Seine Frau Chiara sagt aus eigener Erfahrung: «Wenn ich mich bewerbe, habe ich das Gefühl, vor verschlossenen Türen zu stehen. Du musst den richtigen Schlüssel haben, um einen Job zu erhalten.» Dieser Schlüssel hat nichts mit der Qualifikation zu tun. «Entscheidend ist: Wen kennst du, woher kommst du.»
Wenn ich mich bewerbe, habe ich das Gefühl, vor verschlossenen Türen zu stehen.
Das klingt nach einer Standes-Gesellschaft des Mittelalters. Im Mobilitätsindex des World Economic Forums liegt Italien auf Rang 34 von 82. Die soziale Mobilität ist tief, wie auch die Löhne.
Hohe Kosten für eine Wohnung und wenig Einkommen trotz guter Ausbildung. Kein fester Job, sondern freiberuflich arbeiten. Auch deswegen haben Chiara und Giacomo die Kinderfrage aufgeschoben. Nicht nur sie: Italien hat die drittälteste Bevölkerung der Welt.
Ein fester Job ist entscheidend in Italien, geradezu ein Mythos, sagt Giacomo. Ohne festen Job keine Wohnung, ohne Wohnung keine eigene Familie. Vor allem für die Eltern sei es eine Obsession, dass ihre Kinder eine feste Stelle hätten.
Italien ist ein Land, in dem die Eltern ihren Kindern empfehlen: Akzeptiere die Dinge wie sie sind. Auch wenn sie nicht funktionieren, ergänzt Giacomo. Warum wird das akzeptiert? Weil diejenigen, denen es nicht passt, emigrierten. Das mindere den sozialen Druck im Dampfkochtopf Italien. Die politische Stabilität des Landes beruhe darauf, dass die Guten und Aktiven gingen und die Müden und Korrupten blieben, sagt Giacomo.
Und dann gibt es noch einige wenige wie Giacomo und Chiara. Sie bleiben, weil sie Italien besser machen wollen. Aber dass viele in Italien keine grossen Erwartungen an die kommenden Wahlen haben und nicht wählen wollen, erstaunt nicht.