Zum Inhalt springen

Libanon in der Krise Die unantastbare Miliz im Staat

Jede Kritik an der von Iran finanzierten Hisbollah ist tabu. Wer's trotzdem wagt, muss mit Repression rechnen.

Ende Oktober 2019, gegen Mitternacht in Beirut: Ein paar Demonstrierende schlendern noch über den Märtyrerplatz, andere sitzen vor ihren Zelten. Ein paar Strassen weiter oben tauchen plötzlich Dutzende von Motorradfahrern auf. Am nächsten Morgen steht in der Zeitung, Hisbollah-Anhänger hätten die Demonstranten angegriffen und ihre Zelte niedergebrannt.

Mitte Dezember 2019: Motorradfahrer tauchen nachts in jenem Viertel in Beirut auf, wo 1975 der 15 Jahre dauernde Bürgerkrieg begann. Die bis zu 50 Männer versuchen, die christlichen und muslimischen Bewohner des Quartiers gegeneinander aufzuhetzen.

Auch in diesem Fall fuhren Anhänger der schiitischen Hisbollah-Miliz die Motorräder. Jemand hatte ihren Führer Hassan Nasrallah in den sozialen Medien beleidigt. Das aber ist in Libanon tabu – ebenso, wie die Entwaffnung der mächtigen Miliz zu fordern, wie dies einige Demonstranten immer wieder tun.

Hisbollah gab die Waffen nie ab

Eigentlich hätten alle Milizen nach dem Ende des libanesischen Bürgerkrieges 1990 ihre Waffen abgeben müssen, so stand es in einer UNO-Resolution. Doch weil Israel libanesisches Territorium im Süden des Landes besetzte, die libanesische Armee aber zu schwach war, um die israelischen Soldaten zu vertreiben, konnte die Hisbollah ihre Waffen behalten.

Männer in gelben Hisbollah-Shirts, auf einem Fahrzeut zwei Raketenwerfer.
Legende: Die Hisbollah ist besser bewaffnet als die libanesische Armee – Iran sei Dank. Keystone

Die Hisbollah sei mit ihrem Status als Widerstandsbewegung in Libanon beinahe unantastbar, sagt Carine Lahoud Tatar. Sie ist Dozentin am Institut für Politikwissenschaft an der Saint Joseph Universität in Beirut. Nur wenige Oppositionelle wagten es, die Entwaffnung der Miliz zu fordern.

Diese ist schwerbewaffnet: mit illegalen Waffen ausserhalb jeglicher staatlicher Kontrolle. «Der Krieg mit Israel 2006 und der Krieg in Beirut 2008 haben gezeigt: Es ist nicht der libanesische Staat, der bestimmt, ob Krieg oder Frieden ist», fügt die Politikwissenschaftlerin an.

Hisbollah im syrischen Bürgerkrieg

Ab 2012 schickte die Hisbollah ihre Kämpfer in den syrischen Bürgerkrieg. Seither kämpfen sie an Seite von Assad-Regime, Iran und Russland. Das sei eine schizophrene Situation für den Staat Libanon, sagt Lahoud: «Das Syrien-Engagement Libanons fand im Namen der Hisbollah statt, während sich der Staat Libanon im Syrienkonflikt offiziell neutral gab.»

US-Gesetz «Caesar Act» trifft auch Libanon

Box aufklappen Box zuklappen

Die Hisbollah ist für die USA, die EU und selbst für die Arabische Liga eine Terrororganisation. Die USA belegen die Hisbollah schon lange mit Sanktionen. Neu ist der sogenannte Caesar Act. Das US-Gesetz soll alle Geschäftsbeziehungen des syrischen Regimes unterbinden. Diese eigentlich gegen Damaskus gerichteten Sanktionen treffen nicht nur die Hisbollah, sondern auch den finanziell und wirtschaftlich sowieso schon schwer angeschlagenen libanesischen Staat. Auslöser für den «Caesar Act» waren Zehntausende Bilder von Folteropfern, die ein syrischer Militärfotograf ausser Landes geschmuggelt hatte.

Auf der einen Seite steht der neutrale Staat Libanon, in dem die Hisbollah auch Teil der politischen Elite ist, auf der anderen Seite die von Iran finanzierte Miliz, die inzwischen besser ausgerüstet ist als die libanesische Armee und eigene Kriege führt. Diese Trennung funktioniert in der Praxis immer weniger.

Wenn einer fällt, kracht das ganze System zusammen.
Autor: Carine Lahoud Tatar Dozentin am Institut für Politikwissenschaft an der Saint Joseph Universität in Beirut

Für die Misere im Land macht die Bevölkerung die gesamte politische Elite verantwortlich. Dazu gehört für viele auch die Hisbollah, vor allem seitdem sie in Syrien Tausende von Zivilisten misshandelt, vertrieben und ermordet hat. «Alle müssen weg», rufen Demonstrierende seit vergangenem Oktober.

Demonstrantinnen und Demonstranten mit Transparent, manche tragen eine Gesichtsmaske.
Legende: Die Libanesinnen und Libanesen haben genug – seit Monaten protestieren sie gegen die Politikerkaste. Reuters

«Sie stecken alle mit drin: Wenn einer fällt, kracht das ganze System zusammen», sagt Politologin Lahoud. Die Politiker klammerten sich zunehmend mit Repression an ihre Macht. «Sie greifen auf autoritäre Methoden zurück, die unserer Gesellschaft fremd sind: Zensur von sozialen Medien, Einschüchterung und Verhaftung von jenen, die es wagen, unser kaputtes System und die Verantwortlichen direkt zu kritisieren.»

Libanon steht vor dem Kollaps

Box aufklappen Box zuklappen

Die Libanesinnen und Libanesen sind verzweifelt: Inflation, Währungskrise, Hunger – und der Staat kann Schulden nicht mehr bedienen. Die Wut auf die politische Elite ist gross, denn diese tut nichts, um das Land vor dem Kollaps zu bewahren. Nötig wären Reformen, um dringend benötigte Kredite aus dem Ausland – etwa vom IWF – zu erhalten. Dafür müsste die Regierung aber die Finanzen offenlegen, wozu die Hisbollah kaum einwilligen wird. Trotzdem muss etwas geschehen in Libanon: Seit Anfang Jahr beträgt die Inflation über 50 Prozent, fast die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Jetzt kommen noch die Auswirkungen des «Caesar Act» hinzu: Das US-Gesetz trifft vor allem libanesische Geschäftsleute, die sich vom Wiederaufbau Syriens gute Geschäfte versprachen, in Libanon hergestellte Güter, die via Syrien in andere Länder exportiert werden sowie Banken. Der «Caesar Act» könnte der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.

SRF 4 News, Rendez-vous vom 22.6.2020, 12.30 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel