Die Entwaffnung der schiitischen Hisbollah-Miliz war eine der Bedingungen des Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und dem Libanon per Ende November 2024. Die militärisch geschwächte Hisbollah sei immer noch «Staat im Staat», sagt «Spiegel»-Nahostkorrespondent Christoph Reuter.
SRF News: Welche Bedeutung hat die Hisbollah im Libanon noch?
Christoph Reuter: Die Hisbollah ist ziemlich ramponiert. Trotz ihrer militärisch stark dezimierten Schlagkraft ist sie aber für Millionen von Schiiten noch immer relevant, weil sie auch in anderen Bereichen den Staat ersetzt hat. Man hat etwa seine Krankenversicherung bei der Hisbollah. Sie repariert aber auch das Haus oder besorgt einen Studienplatz und hilft im Gewirr der libanesischen Bürokratie. Sie ist all das, was der disfunktionale libanesische Staat bis heute nicht ist. Auch ein funktionierendes Bankenwesen fehlt. Ihre irrwitzige Relevanz für ihre Klientel verloren hat die Hisbollah noch nicht.
Welche finanziellen Mittel hat die zum Grossteil vom Iran finanzierte Hisbollah noch?
Die Überweisungen aus dem Iran sind schwieriger geworden, weil vor allem die USA Umwege über Drittstaaten verhindern. Ein klares Indiz, dass der Iran weiterhin wichtigster Geldgeber ist: Die Hisbollah gehorcht bei allem, was sie tut, weiterhin den Befehlen aus Teheran.
Israel übt allerdings einen immensen Druck auf die vollständige Entwaffnung der Hisbollah aus.
So ordnete Teheran letztes Jahr an, Raketen nicht auf Israel zu feuern und sich stillzuhalten, da die Hisbollah als Abschreckungsmodell für den Iran weiterhin wichtig sei. Sehr zum Zorn vieler Hisbollah-Kämpfer, die gerne ihren eigenen Krieg geführt hätten. Allerdings ist nicht bekannt, wieviel Geld zurzeit noch ankommt. Aber die Abhängigkeit von Iran ist weiterhin immens.
Was ist bekannt über die militärische Schlagkraft der Hisbollah?
Das hängt davon ab, wen man fragt. Laut den Israelis wurden 60 bis 70 Prozent der Raketen zerstört. Gemäss der Hisbollah wurden zwar Raketen zerstört, doch es gebe noch viele in den Depots der Bekaa-Ebene. Genaues weiss man nicht.
Israel übt allerdings einen immensen Druck auf die vollständige Entwaffnung der Hisbollah aus. Alle rechnen eigentlich damit, dass Israel den Libanon zu einem weitaus grösseren Teil nochmals angreift. Auch dies ein Indiz, dass gar nicht so wenige Raketen noch intakt in Verstecken sind, die der versierte israelische Auslandsgeheimdienst nicht gefunden hat. Raketen, die mit grossen Sprengköpfen bis zu 500 Kilometer fliegen können.
Wird die Hisbollah gemäss einem Plan der libanesischen Führung die Waffen abgeben und wie reagiert Israel, wenn sie das nicht tut?
Nein, das hat die Hisbollah noch nie getan und wird es nicht tun. Da kann die Regierung auf Druck der Amerikaner und aller zwar Absichtserklärungen verabschieden. Nur wissen Präsident Joseph Aoun, früher Armeechef, und der aktuelle Generalstabschef Rodolph Haykal sehr genau: Wenn sie die Armee gegen eine der eigenen Konfessionen im Land einsetzen, wird diese Armee zerbrechen, wie das im Bürgerkrieg geschehen ist. Die Armee wird also nicht hingehen und die Hisbollah mit Gewalt entwaffnen, auch wenn sich viele Libanesen ein Ende des Krieges wünschten. Es läuft also möglicherweise auf einen weiteren Angriff Israels heraus. Weitaus klüger wäre es allerdings, die Hisbollah allmählich überflüssig zu machen. Einer Variante, der man vor dem Hamas-Massaker vom Oktober 2023 nähergekommen war.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.