In Alytus, einer kleinen Stadt mit einem riesigen Konzerthaus aus sozialistischen Zeiten, 90 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Vilnius, versammeln sich am Abend nach der Arbeit gut zwei Dutzend Sängerinnen und Sänger des Amateurchors Dainava zur Probe.
Das geschieht in diesen Tagen überall in ganz Litauen. Denn am Wochenende beginnt das grosse, siebentägige Liederfest: 35’000 Menschen werden in 1500 Ensembles und Tanzgruppen auftreten, Hunderttausende werden die Auftritte verfolgen.
Sogar rund 80 litauische Chöre zum Beispiel aus den USA oder Australien werden anreisen. Litauerinnen und Litauer im Ausland zieht es in diesen Tagen in ihre alte Heimat.
Singende Revolution
Singen ist mehr als Folklore in diesem kleinen Land mit knapp 2.9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Singen war immer Ausdruck der kulturellen Identität.
Im 19. Jahrhundert unter russischer Herrschaft nahm der Zar Litauen sogar seinen Namen und nannte es, zusammen mit Belarus, «Nordwestgebiet des russischen Reichs». Singen aber durfte man in der Kirche, und die Menschen sangen nicht nur Kirchenlieder, und vor allem sie sangen auf Litauisch.
Im 20. Jahrhundert versuchte die Sowjetunion die Liederfestivals zur Erinnerung an die grossen Taten Stalins und des Kommunismus zu vereinnahmen. Angesagt war der «Homo Sovieticus». Ohne Erfolg.
1989 bildeten zwei Millionen Menschen eine 600 Kilometer lange singende Menschenkette von Vilnius in Litauen über Riga in Lettland bis Tallinn in Estland: Das war die singende Revolution.
Es sei eine komplizierte, logistische Leistung gewesen, erinnert sich Vaytautas Landsbergis. Der Musikprofessor war damals die Führungsfigur im Unabhängigkeitskampf und später das erste Staatsoberhaupt des unabhängigen Litauens. Die Menschen trugen Transistorradios bei sich.
Landsbergis spielte bei der singenden Revolution eine wichtige Rolle: Er gab über das staatliche Radio Anweisungen und sprach Mut zu.
Singen hatte damals, in diesen unfreien Zeiten, die Funktion von Social Media heute. Die Menschen kamen zusammen, konnten sich vernetzen und die staatliche Kontrolle aushebeln. Weil Singen erlaubt war. Aber Singen war damals mehr als Folklore.
Schweizer Erfindung
In der Hauptstadt Vilnius laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Dieses Jahr feiert das Liederfestival sein hundertjähriges Jubiläum.
Sängertreffen seien eine Schweizer Erfindung aus dem 19. Jahrhundert, sagt Festivaldirektor Saulius Liausa. Von dort habe es sich über Deutschland nach Estland, Lettland und Litauen verbreitet.
Manchmal muss man ins Ausland gehen, um mehr über sich selbst zu erfahren.
Ein Rückblick auf vergangene Liederfester in Litauen
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Bild 1 von 10. Das erste Liederfest 1924. Bildquelle: dainusvente.lt.
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Bild 2 von 10. Liederfest 1950. Bildquelle: dainusvente.lt.
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Bild 3 von 10. Liederfest 1960. Bildquelle: dainusvente.lt.
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Bild 4 von 10. Liederfest 1985. Bildquelle: dainusvente.lt.
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Bild 5 von 10. Liederfest 1990. Bildquelle: dainusvente.lt.
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Bild 6 von 10. Liederfest 1994. Bildquelle: dainusvente.lt.
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Bild 7 von 10. Liederfest 1998. Bildquelle: dainusvente.lt.
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Bild 8 von 10. Liederfest 2003. Bildquelle: dainusvente.lt.
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Bild 9 von 10. Liederfest 2009. Bildquelle: dainusvente.lt.
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Bild 10 von 10. Liederfest 2014. Bildquelle: dainusvente.lt.