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Kultur schützen im Krieg «Es ist mühevoll»: Einblick in den Unesco-Alltag in Kiew

Die Unesco arbeitet täglich daran, die bedrohten Kulturstätten der Ukraine zu retten. Eindrücke und Informationen aus erster Hand von der Leiterin des Unesco-Büros in Kiew.

«Wir haben regelmässig jeden Tag Alarm wegen Luftangriffen. Wie die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine müssen wir uns in Schutzräume begeben, am Tag und auch nachts», sagt Chiara Dezzi Bardeschi. «Es ist mühevoll.»

Die Italienerin leitet in Kiew in der Ukraine das Büro der Unesco. Seit September 2022 ist die Kultur- und Bildungsorganisation der UNO im Kriegsgebiet Ukraine präsent. Sie schützen die bedrohten Kulturgüter – dies im Wissen darum, dass bereits über 10'000 Zivilisten im Krieg gestorben sind.

Chiara Dezzi Bardeschi, ihr zwanzigköpfiges Team und die ukrainischen Fachleute arbeiten hier unter schwierigen Bedingungen. Doch sie klagt nicht. Denn jede Aufgabe, die sie und ihre Kolleginnen und Kollegen vor Ort bewältigen, sieht sie als Belohnung, weil wieder etwas erreicht sei. Grosse Einsatzbereitschaft sei nötig, denn sie hätten grosse Ziele und viel Arbeit.

Schäden verifizieren

An Arbeit für die Unesco-Mission in der Ukraine mangelt es wahrlich nicht. Dezzi Bardeschi und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mit Satellitenbildern und Besuchen vor Ort Schäden und Zerstörungen an 342 Kulturstätten verifiziert. «Das sind Orte von historischer und kultureller Bedeutung: Museen, Denkmäler, Archive, Bibliotheken und auch religiöse Bauwerke.»

Eine Frau hält ein altes Buch in der Hand, eine weitere Frau steht daneben. Im Hintergrund steht ein Scanner.
Legende: Chiara Dezzi Bardeschi (rechts) und ihr Team helfen in Kiew bei der Digitalisierung von antiquarischen Schätzen. Unesco

Auf 3.5 Milliarden US-Dollar (ca. 3 Milliarden CHF) schätzt die Unesco die Schäden allein an dieser kulturellen Infrastruktur. Um den Kultursektor wieder funktionsfähig zu machen, seien während der nächsten zehn Jahre mindestens neun Milliarden US-Dollar (ca. 7.9 Milliarden CHF) nötig.

Gefährdetes Kulturerbe

Acht Orte in der Ukraine stehen auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes. Drei davon finden sich mittlerweile auf dem Verzeichnis des akut bedrohten Kulturerbes: die Altstadt von Lwiw, die Sophienkathedrale in Kiew und das Höhlenkloster von Kiew-Petschersk.

«Wir sind sehr besorgt, weil 2023 die Angriffe auf kulturelle Einrichtungen zugenommen haben», sagt Chiara Dezzi Bardeschi. Sie weist etwa auf das Gelände der Polytechnischen Universität in Lwiw hin, das im Juli 2023 schwer getroffen wurde. Sie hebt auch die Zerstörungen in Odessa hervor. Wiederholte Raketenangriffe ab Juli 2023 hätten über 50 wichtige Gebäude verwüstet, darunter die Verklärungskathedrale aus dem frühen 19. Jahrhundert.

Gegenwärtig arbeitet die Unesco am Dach dieser Kathedrale – sowie an der Musikschule in Odessa, am dortigen Literaturmuseum, am Museum für orientalische Kunst, am Kunstmuseum und am archäologischen Museum. Die Aufzählung beschädigter Kulturinstitutionen will und will nicht enden. Und: «Nicht nur einzelne Gebäude leiden unter den Angriffen, sondern das ganze urbane Geflecht.»

Insgesamt hat die Unesco in Zusammenarbeit mit den ukrainischen Behörden bisher 5000 kulturelle und touristische Stätten ermittelt, die die russische Armee mit ihren Angriffen verheert hat. Laut dem Haager Abkommen von 1954 zum «Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten» ständen sie eigentlich unter besonderem Schutz. Besonders schwer wiegen die Kriegsschäden in den Regionen Donetsk, Luhansk, Charkiv und Odessa.

Kunstschaffende unterstützen

Zu den Zerstörungen an Bauwerken und Infrastruktur komme hinzu, dass die Einnahmen der Kulturwirtschaft eingebrochen sind, sagt Dezzi Bardeschi. «Auf mehr als 19 Milliarden US-Dollar (ca. 16.7 Milliarden CHF) schätzen wir die Einnahmeverluste im kreativen Bereich. Berufsleute haben das Leben verloren oder ihre Aufträge eingebüsst, mussten das Land verlassen oder kämpfen an der Front.» Der Kultursektor habe keine Mittel mehr.

Bei den Künstlerinnen und Künstlern setzt die Unesco in der Ukraine auch an, um das Kulturleben einigermassen am Leben zu erhalten. Jetzt, während des Krieges, und für später. Denn, sagt die Leiterin der Unesco in der Ukraine: «Die Kunstschaffenden, die Künste sind ein wichtiges Schwungrad für die Resilienz der Gesellschaft. Sie bringen die Menschen zusammen.» Dieser Austausch sei wichtig, denn er mache die Kraft der Gemeinschaft und die Kraft von uns allen aus.

Von technischer Hilfe bis Ausbildung

Die Unesco ist in der Ukraine vielfältig tätig: Bei beschädigten Bauwerken beispielsweise leistet sie in Zusammenarbeit mit einheimischen Kräften technische Hilfe. Sie unterstützt etwa bei Gebäudereparaturen oder beim Erstellen von Notdächern über beschädigten Kirchen. Zudem dokumentiert sie wichtige Bauwerke mit einem 3D-Scanner, um deren unversehrten Zustand für alle Eventualitäten festzuhalten.

Ein junger Mann mit blauem T-shirt und Helm, darauf steht «Unesco». Er bedient ein Gerät auf einem Stativ.
Legende: Mithilfe eines 3D-Scanners dokumentiert der Unesco-Mitarbeiter den Kircheninnenraum. Unesco

«Die Dokumentation des Kulturerbes ist eine unserer zentralen Aufgaben. Ebenso intervenieren wir im Notfall, um ein beschädigtes Gebäude vor weiterer Zerstörung, etwa durch die Witterung, zu schützen.» Sie arbeiten zudem auch präventiv: Sie schützen etwa Denkmäler, die unter freiem Himmel stehen.

Eine wichtige Aufgabe sei es zudem, das Personal von Kultur- und Bildungsinstitutionen auszubilden, gerade auch für die Vorsorge gegen Risiken.

Die Bildung aufrechterhalten

Doch die Unesco ist nicht nur im Kulturgüterschutz aktiv. Die Organisation legt auch auf die Bildung, auf Schulen aller Stufen, grosses Gewicht. «Wir arbeiten, um die Kontinuität der Bildung in dieser schwierigen Kriegszeit zu gewährleisten. Das tun wir, indem wir den physischen Zugang zu Wissen und zum Unterricht erleichtern.»

Sie bauen etwa Schulräume wieder auf und organisieren Schutzräume, damit die Schülerinnen und Schüler und die Studierenden während der Angriffe in Sicherheit sind, sagt die Leiterin des Unesco-Büros.

Vier Mädchen sitzen nebeneinander, vor ihnen Tablets und Laptops. Die Sonne scheint durchs Fenster.
Legende: Schülerinnen arbeiten an Laptops und Tablets, im ersten modularen Bildungsraum. Die Dorfschule von Zahaltsi in der Region Kiew wurde durch den Beschuss der russischen Armee schwer beschädigt. Getty Images / Volodymyr Tarasov / Ukrinform

Chiara Dezzi Bardeschi und ihr Team arbeiten auch daran, dass der Unterricht online stattfinden kann. Dafür hätten sie beispielsweise an Unterrichtende über 50'000 Tablets verteilt und über 11'000 an Studierende. «Besonders in Regionen, die der Konfliktzone näher liegen und wo die Schulen geschlossen sind.»

Für eine friedliche Zukunft

Die psychische Gesundheit, die Überwindung von Kriegstraumata fällt ebenfalls ins Aufgabengebiet der UNO-Organisation für Kultur und Bildung. Dafür sei es wichtig, dass Fachleute eine möglichst grosse Zahl von Kindern erreichen. Diese im Schulbetrieb zu behalten, sei essenziell, auch damit sie nicht allein bleiben mit ihren üblen Erlebnissen.

Schliesslich erwähnt Dezzi Bardeschi auch die Journalistinnen und Journalisten. Sie versuche man zu schützen, damit sie weiterhin Informationen über das Kriegsgeschehen liefern können – auch in entlegenere, isolierte Regionen.

Gewaltige Aufgaben sind das. Chiara Dezzi Bardeschi weiss, wovon sie spricht. In ihren 22 Jahren bei der Unesco hat sie unter anderem in Zentralafrika, im Libanon, in Libyen, im Irak und im Sudan gearbeitet.

Hinter der Arbeit von Chiara Dezzi Bardeschi und ihrem Team steht eine grosse Motivation: den Kindern in der Ukraine, den Jugendlichen, der ganzen vom Krieg gequälten Gesellschaft die Situation zu erleichtern und die Weichen zu stellen für ein gutes Leben in einer friedlichen Zukunft.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 23.02.2024, 17:20 Uhr

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