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Menschen von Charkiw in Angst «Die Stadt ist in einem Zustand wie nach dem Zweiten Weltkrieg»

Der russische Angriff in der Ukraine läuft. Besonders schwer traf es heute die Menschen in der Millionenstadt Charkiw.

Vor vier Wochen noch trafen wir uns in ihrem Büro mit Blick auf den riesigen Freiheitsplatz im Zentrum der 1.5 -Millionen-Stadt und unterhielten uns über die russische Sprache und ukrainische Identität. Jetzt bangt die Soziologin und Universitätsdozentin Olga Filippowa um ihr Leben.  

In einer Sprachnachricht sagt sie: «Ich befinde mich in einem Luftschutzkeller der Stadt Charkiw, der überfüllt ist mit Menschen, mit Hunden und anderen Haustieren. Die Stadt ist in einem Zustand wie nach dem Zweiten Weltkrieg.»

Seit fünf Tagen in Schutzräumen

Die Verzweiflung ist ihr deutlich anzuhören: Fünf Tage schon dauerten die Luftangriffe und Bombardierungen auf die Stadt, und sie könnten den Schutzraum nicht verlassen, es sei zu gefährlich, sagt Filippowa.

Zerstörung in Charkiw
Legende: Die russischen Angriffe auf Charkiw der letzten Tage verwüsteten die Stadt. Bilder von Augenzeugen

Tatsächlich zeigen Aufnahmen, die Privatpersonen, internationale und ukrainische Korrespondenten ins Netz stellen, ein Bild des Schreckens. Eine völlig ausgebrannte Schule nahe des Zentrums zum Beispiel, oder Zerstörungen an Wohnhäusern.

Am Dienstagmorgen um 8 Uhr Ortszeit schlug eine Rakete direkt auf dem Platz der Freiheit im Zentrum der Stadt ein, vor dem Gebäude der Regionalverwaltung.

Mindestens zwei Autos wurden dabei vollkommen zerstört, man sieht auf Aufnahmen Trümmer, die weitflächig auf der Strasse liegen, zerborstene Fensterscheiben in den nahen Gebäuden und das rauchgeschwärzte stark beschädigte Gebäude der Regionalverwaltung. Eine gigantische Zerstörung im Herzen der Stadt.

Zahlreiche Tote beim jüngsten Angriff

Gemäss Angaben der ukrainischen Behörden starben allein bei diesem Raketenangriff zehn Menschen. Rund ein Dutzend weitere Menschen wurden aus den Trümmern gerettet. Getötet wurde auch ein indischer Student, wie die indischen Behörden bestätigten. Denn Charkiw ist – oder war – eine kosmopolitische und vor allem bei Studierenden aus aller Welt beliebte Grossststadt.

Auf einer Aufnahme in einem ukranischen Nachrichtenkanal auf dem Messenger-Dienst Telegram ist eine Gruppe von Frauen und Männern zu sehen, alle schlicht gekleidet und in zivil, die vor den verwüsteten Gebäuden stehen. Ein Sprecher der Gruppe ruft: «Schaut, Ihr Russen, was Ihr hier anrichtet, verflucht. Das ist unser Stadtzentrum, hier gehen wir sonst spazieren und feiern unsere Feste. Schaut hin, was bei uns geschieht, so viele Menschen sind gestorben, hört auf, verlasst unser Land.»

Zerstörung in Charkiw
Legende: Die russischen Angriffe auf Charkiw der letzten Tage verwüsteten die Stadt. Bilder Augenzeugen

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bezeichnete den Angriff als Kriegsverbrechen. Obwohl Russland das kategorisch zurückweist: Der Eindruck verdichtet sich, dass inzwischen ukrainische Städte gezielt bombardiert werden.

Unsere einzige Hoffnung ist ein internationaler Kraftakt.
Autor: Olga Filippowa

Verzweifelten Menschen wie Olga Filippowa bleibt derweil nur der Appell an alle internationalen Organisationen: «Bitte, organisieren Sie so schnell wie möglich einen humanitären Konvoi, der Kinder und Frauen von hier wegbringt.» Denn sie glaubten den Versicherungen Russlands nicht, dass man einen solchen sicheren Fluchtkorridor einrichte: «Unsere einzige Hoffnung ist ein internationaler Kraftakt.»

Echo der Zeit, 01.03.2022, 18:00 Uhr

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