Zum Inhalt springen

Menschenrechtsgerichtshof Deutschland in «Kundus-Affäre» entlastet

Der EGMR entscheidet: Die deutschen Ermittlungen zum Bombenangriff in Afghanistan von 2009 waren ausreichend.

Die Bombardierung eines von den Taliban entführten Tanklastwagens im afghanischen Kriegsgebiet von Kundus unter einem deutschen Nato-Obersten hatte 2009 hohe Wellen geschlagen, denn es starben auch über 100 Zivilisten, die Benzin abzapften.

Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg abschliessend geurteilt und Deutschland entlastet. Das 17-köpfige Gericht befand einstimmig, dass die deutschen Behörden und die deutsche Justiz den Sachverhalt und die Entscheidungsprozesse sorgfältig abgeklärt hatten – und zwar im Rahmen des Möglichen, wie es das afghanische Kriegsgebiet der Region Kundus erlaubte.

So begründet das Gericht

Zumindest indirekt übernähmen die Richter damit auch die Argumentation der deutschen Justiz, sagt der diplomatische SRF-Korrespondent Fredy Gsteiger: So sei der deutsche Oberst Georg Klein tatsächlich überzeugt gewesen, der Tanklaster könnte als rollende Bombe ein Nato-Militärlager bedrohen. Auch sei er überzeugt gewesen, dass keine Zivilisten vor Ort waren. Was sich als gravierende Fehleinschätzung herausstellte, aber aus Sicht der Richter kein krimineller Akt war.

Die Strassburger Richter befanden zudem, dass der Fall in Deutschland auch politisch aufgearbeitet worden sei – mit einer umfangreichen parlamentarischen Untersuchung.

Das Urteil dürfte laut Gsteiger bei der deutschen Regierung grosse Erleichterung auslösen: Denn bei einer Verurteilung hätte man das Verfahren neu aufrollen müssen, was zu erneuten heftigen Debatten über den Sinn und Unsinn von Bundeswehreinsätzen im Ausland geführt hätte.

Oberst Georg Klein.
Legende: Der damalige deutsche Nato-Oberst Georg Klein hatte am 3. September 2009 die Bombardierung des Tanklastwagens angeordnet. Keystone/Archiv

Viele offene Fragen

Aussenpolitisch schätzt Gsteiger das Urteil nicht als besonders wichtig ein. Die Urteilsbegründung zeige relativ deutlich, dass der Europäische Gerichtshof nun nicht in jedem Fall einer militärischen Aktion im Ausland über deren Legalität entscheiden wolle. Das würde die Möglichkeiten dieses Gerichts sprengen.

Das Urteil bedeutet laut Gsteiger aber auch, dass manche Frage offenbleibt. Warum musste man gleich bombardieren? Hätte man durch bessere Aufklärungsarbeit nicht wissen können oder müssen, dass sich Zivilisten bei den Tanklastern befanden?

Folgen für Afghanistan-Einsatz?

Vermutlich werde die Diskussion jetzt nüchterner geführt werden können als im Fall einer Verurteilung Deutschlands und unter dem Druck des Abziehen-müssens, schätzt Gsteiger.

Schon diese Woche werden die Nato-Verteidigungsminister diskutieren, was eine Fortführung des Einsatzes nach fast zwei Jahrzehnten überhaupt noch bringt. Aber letztlich hänge diese Entscheidung von den Amerikanern ab, so Gsteiger.

Der frühere US-Präsident Donald Trump wollte abziehen, mit dem Risiko, dass die Taliban die Macht übernehmen. Präsident Joe Biden wird möglicherweise neu entscheiden. Die anderen Nato-Länder werden sich danach richten müssen, denn sie sind logistisch und militärisch auf die US-Präsenz angewiesen.

Die «Kundus-Affäre»

Box aufklappen Box zuklappen

Am 3. September 2009 hatte der deutsche Nato-Oberst Georg Klein den Befehl gegeben, Bomben auf einen von den Taliban entführten Tanklastwagen abzuwerfen.

Was Klein nicht wusste: Die Zivilbevölkerung war dabei, aus dem Lastwagen Benzin abzupumpen. Über 100 Zivilisten kamen ums Leben. Darauf klagt ein Afghane, dessen zwei Söhne umkamen, Deutschland habe die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. Vor deutschen Gerichten bekam er kein Gehör. Nun urteilte abschliessend der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EUGMR) in Strassburg, Deutschland sei nicht schuld.

Die «Kundus-Affäre» hatte in Deutschland einen regelrechten Schock verursacht. Schon damals wurde erbittert über den Sinn von Bundeswehreinsätzen im Ausland debattiert. Der damalige Verteidigungsminister und der Generalinspekteur der Bundeswehr mussten zurücktreten.

Rendez-vous, 16.02.2021, 12:30 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel