Zum Inhalt springen

Migranten in Nordbosnien Wild entschlossen, aber nahezu chancenlos

Tausende Migranten versuchen von Bosnien aus in die EU zu gelangen. Die meisten sind fast ohne Chance auf Asyl.

«Hell» heisst die Fabrikruine in Velika Kladusha. Und wer hineingeht, versteht den Namen. Alles ist feucht. Die Männer, allesamt aus Bangladesch, sitzen in kleinen selbstgebauten Zelten, umgeben von Schmutz, haufenweise Abfall, einem herrenlosen Hund und einer Katze. Mohammad sagt: «Siebenmal habe ich ‹the game›, das Spiel schon gemacht. Siebenmal hat mich die Grenzpolizei gefasst, verprügelt und wieder nach Bosnien gebracht.»

Siebenmal habe ich ‹the game›, das Spiel schon gemacht.
Autor: Mohammad

«Das Spiel» – der Ausdruck irritiert. Aber fast alle hier nennen es so. Die Dorfbewohner, die Mitarbeiter der Hilfswerke, die Grenzpolizisten, vor allem aber die Migranten selber. Dieses «Spiel» geht so: Nacht für Nacht versuchen Dutzende von Migranten über die grüne Grenze nach Kroatien zu gelangen, und damit in die Europäische Union. Wenn sie von der kroatischen Polizei gefasst werden, werden sie oft mit Gewalt wieder nach Bosnien zurückgebracht.

Zu sehen ein improvisiertes Lager eines Flüchtlings.
Legende: Wald bei Velika Kladusa in Nordbosnien. Viele schlafen in arg improvisierten Camps, auch im Winter. Keystone

Niemand will bleiben

An einem offiziellen Grenzübergang nach Asyl nachzusuchen, das ist für die allermeisten Migranten keine Option. Die einen sagen, man werde dort nicht eingelassen, die anderen wollen nicht in Kroatien registriert werden, denn ihr Ziel ist fast immer ein westeuropäisches Land, wo es Jobs und einen besser ausgebauten Sozialstaat gibt.

Dass Migranten in Bosnien bleiben wollen, komme so gut wie nie vor, sagt Elmedin Mehadžić, Sprecher der Stadtregierung von Bihac. «Sie wollen alle nach Frankreich, Italien, in die Schweiz, nach Deutschland oder Österreich.

Wenn sie hören, dass hier das Durchschnittseinkommen unter 500 Euro ist, dann sagen sie: Komm mit uns. Worauf wartest du.» Er fordert mehr Hilfe aus Europa, um den vielen Migrantinnen und Migranten besser helfen zu können. Denn der Winter steht vor der Tür und es fehlt an Unterkünften.

Die bestehenden Lager sind alle voll. Auch das Lager «Miral» in Velika Kladusha. In dieser ehemaligen Fabrik leben 700 Migranten. Lagerchef Mite Cilkovski erklärt uns die Regeln: «Wenn Migranten versuchen, über die Grenze zu gehen, dann müssen sie ihren Personalausweis am Empfang hinterlegen. Wenn sie nach 48 Stunden nicht zurück sind, dann gehen wir davon aus, dass sie es geschafft haben. Dann bekommt jemand anderes ihr Bett.»

Es gibt dort überall keinen Krieg. Aber sie kommen trotzdem.
Autor: Mite Cilkovski Lagerchef

Die weitaus meisten Migranten im Lager «Miral» kommen aus Bangladesch und Pakistan, also aus Ländern, in denen kein Krieg herrscht. Sie haben kaum Chancen auf Asyl. Lagerchef Cilovski: «Wir haben Leute aus Nepal, aus Eritrea, Nigeria, Marokko, Algerien und Tunesien, Ägypten. Es gibt dort überall keinen Krieg. Aber sie kommen trotzdem.»

Viele Anwohner wollen die Lager nicht

Das bekannteste Lager in Nordbosnien war «Bira» in Bihac. Doch wegen katastrophaler hygienischer Verhältnisse, Kriminalität und Protesten der Anwohner wurde das Lager geschlossen. Hilfswerke möchten es wieder öffnen. Doch Anwohner demonstrieren jeden Abend dagegen.

Zu sehen Demonstranten vor einem Migrantenlager in Bosnien.
Legende: Anwohner demonstrieren vor dem Lager bei Bihac (2019). Die Behörden haben es vor einem Jahr geschlossen. Reuters

Einer von ihnen ist der Gymnasiallehrer Sej Ramić. Er sagt: «Es gab in und ausserhalb dieses Lagers rund 4000 Delikte. Prostitution, Vergewaltigung, Drogen. Wir sollten das Geld für diese Lager verwenden, um diese Menschen human zurück in ihre Länder zu bringen und ihnen dort zu helfen.»

Doch die Migranten wollen nicht zurück. Mahmood aus Bangladesch sagt: «Hoffentlich scheint morgen die Sonne, so Gott will. Ich will nach Italien. Das ist mein Traum.» Und sein Landsmann Saif meint sarkastisch: «Es ist ein Spiel. Das Leben eines Mannes ist ein Spiel. Und die Grenze zu überqueren ist ein Spiel.»

10vor10, 17.12.2020, 21.50 Uhr

Meistgelesene Artikel