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Migration in die EU «Das Sterben im Mittelmeer hat sich verlagert»

Migrationsexpertin Kohlenberger erklärt, was zum Rückgang bei der Migration in die EU geführt hat.

Im Vergleich zum letzten Jahr sind in den ersten sieben Monaten dieses Jahres über ein Drittel weniger illegale Grenzübertritte in die EU verzeichnet worden, wie die EU-Grenzschutz-Agentur Frontex mitteilte. Die grössten Rückgänge verzeichnete Frontex auf den Routen über den Westbalkan und über das zentrale Mittelmeer. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger sagt, was sich geändert hat.

Judith Kohlenberger

Migrationsforscherin

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Kohlenberger ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seit 2015 arbeitet sie im Bereich der interdisziplinären Fluchtforschung. Sie lehrt an der Universität Wien, der Universität für angewandte Kunst Wien und der FH Wien.

SRF News: Was ist der Hauptgrund für den Rückgang der illegalen Migration, den die Frontex vermeldet?

Judith Kohlenberger: Der Hauptgrund ist der Vergleichszeitraum im Vorjahr. Im Jahr 2023 haben wir ein besonders hohes Niveau an Asylantragszahlen und versuchten Grenzübertritten. Verglichen damit sehen wir einen deutlichen Rückgang in diesem Jahr. Trotzdem kam es auch aufgrund anderer Faktoren wie stärkerer Grenzkontrollen und geänderter Visapolitik zu weniger Bewegung entlang der Balkanroute und damit zu weniger versuchten Grenzübertritten.

Am stärksten hat die Zahl auf der Westbalkanroute abgenommen. Laut Frontex gab es dort 75 Prozent weniger registrierte Versuche, in die EU einzureisen als im Vorjahr. Wie erklären Sie sich das?

Wenn man den Faktor subtrahiert, dass wir im Vorjahreszeitraum ein hohes Niveau hatten, so würde ich sagen, dass einer der Gründe Serbiens Haltung ist. Serbien war eine Art Haupteinfallstor für jene Menschen, die nachher irregulär weiter in Richtung Ungarn, Österreich, Deutschland und die Schweiz gewandert sind. Aus Ländern wie Indien oder Pakistan konnten Menschen vorher legal visafrei im Flugzeug bis nach Serbien fliegen. Von dort reisten sie irregulär über die Balkanroute weiter. Nun hat Serbien einerseits seine Visapolitik geändert. Andererseits ist – vor allem im Zuge des Wahlkampfs in Serbien im Herbst und Winter 2023 – die serbische Politik sehr hart gegen die dortige Schlepperindustrie, die hochkorrupt ist, vorgegangen. Das hat zu wesentlich weniger Grenzübertritten geführt.

In Libyen herrschen im Grunde Warlords und das bedeutet leider, dass diese Migrationsprävention, wie das Vorgehen von europäischer Seite oft bezeichnet wird, mit einem sehr hohen Preis einhergeht.

Auch über die zentrale Mittelmeerroute gab es weniger Versuche, die Grenze zur EU zu überqueren als noch im letzten Jahr. Wo liegen da die Gründe?

Auch hier ist ein relevanter Faktor, dass wir im vergangenen Jahr fast eine Rekordanzahl an Migrationswilligen gesehen haben. Ein weiterer Grund sind sicherlich die Migrationsabkommen, die die EU im vergangenen Jahr mit Tunesien und Ägypten und schon länger mit Libyen geschlossen hat. Doch bei Tunesien und Ägypten und vor allem bei Libyen handelt es sich nicht um lupenreine Demokratien.

Recherchen von Menschenrechtsorganisationen berichten immer wieder, dass Migranten, die ursprünglich aus Ländern südlich der Sahara stammen, aufgegriffen werden und dann in der Sahara ohne Essen und Wasser ausgesetzt wurden.

In Libyen herrschen im Grunde Warlords und das bedeutet leider, dass diese Migrationsprävention, wie das Vorgehen von europäischer Seite oft bezeichnet wird, mit einem sehr hohen Preis einhergeht. Ich meine nicht nur die hohen finanziellen Kosten, sondern auch die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die geschehen, wenn Migrantinnen und Migranten gewaltsam von der Überfahrt abgehalten werden.

Zynisch gesagt: Ein Teil des Sterbens im Mittelmeer hat sich verlagert und ist zum Sterben in der Wüste geworden.

Investigativ-Recherchen von Menschenrechtsorganisationen berichten immer wieder, dass Migranten, die ursprünglich aus Ländern südlich der Sahara stammen und aufgegriffen werden, in der Sahara ohne Essen und Wasser ausgesetzt wurden. Zynisch gesagt: Ein Teil des Sterbens im Mittelmeer hat sich verlagert und ist zum Sterben in der Wüste geworden. Da ist es wichtig, aus menschenrechtlicher Sicht als EU genauer hinzuschauen, weil das – zu Ende gedacht – auch eine europäische Verantwortung ist.

Das Gespräch führte Tim Eggimann.

SRF 4 News, 15.08. 2024, 06:40 Uhr ; 

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