In ihrem neuen Migrationsbericht zeichnet Ärzte ohne Grenzen ein düsteres Bild an den EU-Aussengrenzen und in Nordafrika. Physische Gewalt, Folter und Ausbeutung gehören demnach zum Alltag. Felix Braunsdorf, Experte für Flucht und Migration bei der Hilfsorganisation, beschreibt die Lage.
SRF: Wie ist die Situation in den nordafrikanischen EU-Partnerstaaten?
Felix Braunsdorf: In Libyen sehen wir ein System von Haftanstalten, in die Menschen zurückgeführt werden, wenn sie von der libyschen Küstenwache auf dem Mittelmeer aufgegriffen werden. Das sind Haftanstalten, bei denen wir von einer Situation grösster Folter sprechen.
Das hat erhebliche gesundheitliche Folgen für die Menschen.
Wir sehen sexuelle Übergriffe bis hin zu Entzug von Nahrung und Wasser. Das hat erhebliche gesundheitliche Folgen für die Menschen. Das ist eine Form der Gewalt, die wir in diesen externalisierten Formen der Kooperation mit Nicht-EU-Staaten sehen und kritisieren.
Wie sieht es in den EU-Ländern an der Aussengrenze aus?
Das ist der zweite Ring sozusagen, wo Menschen, die es an die EU-Aussengrenze geschafft haben, andere Formen oder ähnliche Formen von Gewalt erleben – auch physische Gewalt in Form von Schlägen. An der gesamten EU-Aussengrenze sehen wir aber auch Formen von unterlassener Hilfeleistung gegenüber Schutzsuchenden. Wenn sie zum Beispiel an der polnisch-belarussischen Grenze versuchen, Asyl zu ersuchen, und dann von polnischen Grenzschutzbeamten zurückgedrängt werden – mit Gewalt. Von August 2021 bis September 2023 hat Ärzte ohne Grenzen insgesamt mehr als 28'000 Menschen an den EU-Aussengrenzen geholfen, die durch Grenzzäune, Pushbacks oder mangelnde Such- und Rettungsmassnahmen verletzt oder traumatisiert wurden.
Was müsste die EU Ihrer Ansicht nach tun, um die Situation zu verbessern?
Prinzipiell bräuchte es auf EU-Ebene einen Kurswechsel, der eben auch die Gewalt stoppt, aber auch die Entmenschlichung, die wir schleichend beobachten. Denn das geht einher mit einer andauernden Gewaltanwendung gegen Schutzsuchende, und, dass dies nach einer gewissen Zeit als eine Art Normalität gesehen wird. Das darf nicht passieren.
Auf der Insel Samos haben unsere Teams zum Beispiel einen Ausbruch von Krätze festgestellt.
Die Aufnahmebedingungen sollten menschenwürdig sein. Das sehen wir in den geschlossenen Zentren auf den griechischen Inseln eben nicht. Dort herrschen unbeschreibliche hygienische Bedingungen. Auf der Insel Samos haben unsere Teams zum Beispiel einen Ausbruch von Krätze festgestellt. In dem Lager gibt es keinen Arzt für 4000 Menschen, die dort leben. Deswegen müssen Staaten dafür sorgen, menschenwürdige Aufnahmebedingungen entlang der Aussengrenze herzustellen, wo Menschen zur Ruhe kommen können, wo sie sich registrieren lassen können und dann auch der Asylantrag anfänglich bearbeitet werden kann.
In der europäischen Politik steht die Reduktion der Zahl der Geflüchteten weit oben. In Anbetracht dessen, wie soll die Europäische Union mit dieser Frage umgehen?
Bei dieser Frage sollte man nicht aus dem Blick lassen, dass sich die Fluchtsituation weltweit etwas anders darstellt: Die übergrosse Mehrheit an Geflüchteten sucht gar nicht in reichen Ländern wie in Europa Schutz, sondern in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen – ungefähr drei Viertel.
Daher ist diese politische Debatte in Europa etwas zynisch.
Es gibt in der Welt humanitäre Krisen, wie zum Beispiel der Bürgerkrieg im Sudan, die gerade eskalieren, beziehungsweise grosse Fluchtbewegungen auslösen. Daher ist diese politische Debatte in Europa, in der es eben hauptsächlich darum geht, Zahlen zu reduzieren – so könnte man sagen – etwas zynisch.