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Migrationspolitik im Europarat Alain Berset: «Politischer Druck auf den Gerichtshof ist falsch»

Neun europäische Staaten fordern mehr Spielraum in der Migrationspolitik und fühlen sich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingeschränkt. Alain Berset, der Generalsekretär des Europarates, nimmt Stellung im SRF-Tagesgespräch.

Alain Berset

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Der SP-Politiker Alain Berset war von 2012 bis Ende 2023 Bundesrat. Er stand dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) vor. Der 1972 geborene Berset studierte an der Universität Neuenburg Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Am 25. Juni wurde der alt Bundesrat zum Generalsekretär des Europarats in Strassburg gewählt.

Herr Berset, neun Staaten haben im Mai in einem offenen Brief mehr Spielraum in der Migrationspolitik gefordert. Damals zeigten Sie wenig Verständnis. Nun klingen Sie in einem BBC-Interview versöhnlicher. Was ist passiert?

Überhaupt nichts. Ich sage exakt das Gleiche: Politischer Druck auf den Gerichtshof ist falsch. Wir können nicht für die Unabhängigkeit der Justiz plädieren und gleichzeitig Druck ausüben. Aber wir sind bereit, im Rahmen des Europarates über Migration zu diskutieren. Das muss aber auf der politischen Ebene geschehen, nicht über den Gerichtshof.

Es geht nicht, Druck auf den Gerichtshof auszuüben.

Diese Länder finden, die Rechtsprechung sei ein Problem für die Umsetzung ihrer Migrationspolitik.

Meine Reaktion war: Lassen Sie uns über Migration diskutieren und sehen, was wir tun können. Aber es geht nicht, Druck auf den Gerichtshof auszuüben. Diese Länder machen aber auch klar, dass es ihnen nicht darum geht, Menschenrechte zu streichen oder zu schwächen.

Experten sagen, der Gerichtshof habe die Schutzansprüche von Migranten in den letzten 30 Jahren sukzessive ausgeweitet. Die Politik habe heute nicht mehr die gleiche Freiheit wie früher.

Wenn wir die Fakten anschauen, ist das Bild ein anderes. Im Vereinigten Königreich etwa gab es in den letzten zehn Jahren einen einzigen Migrationsfall, bei dem der Gerichtshof anders entschied als die nationalen Gerichte. Es ist keine gute Idee, einen Sündenbock zu suchen, wenn man ein politisches Problem lösen will.

Eine ehemalige Richterin am Gerichtshof sagt, der Schutz vor unmenschlicher Behandlung werde so weit ausgelegt, dass selbst Schwerverbrecher vor einer Abschiebung bewahrt werden. Das sei der Bevölkerung schwer vermittelbar.

Meine Rolle ist es, die Unabhängigkeit der Justiz zu schützen. Wenn es Probleme gibt, dann bitte konkret auf den Tisch, auf der politischen Ebene im Europarat. Wir haben 46 Mitgliedstaaten, die sich ständig austauschen. Lassen Sie uns das in diesem Rahmen diskutieren. Ich bin sehr offen dafür, aber es muss faktenbasiert und präzise sein.

Was bieten Sie den Regierungen an, die Kritik üben?

Wir möchten in den nächsten Wochen einen Austausch auf politischer Ebene in Strassburg organisieren. Aktuell laufen Gespräche mit Mitgliedstaaten, um zu sehen, was ihre Bedürfnisse sind.

Wir leben aktuell in unruhigen Zeiten. Sie sagen, man müsse nicht nur das Militär, sondern auch die Demokratie aufrüsten. Was meinen Sie damit?

Wir sehen in Europa eine starke Entwicklung in Richtung Aufrüstung, was verständlich ist. Gleichzeitig erleben wir einen Rückschritt bei der Stärke der demokratischen Institutionen.

Wir müssen die demokratische Sicherheit genauso ernst nehmen wie die militärische.

Was passiert in 10 oder 15 Jahren, wenn wir hochgerüstete Länder haben, in denen plötzlich eine extremistische Gruppe die Macht übernimmt, weil die Institutionen zu schwach sind? Das ist meine Botschaft: Wir müssen die demokratische Sicherheit genauso ernst nehmen wie die militärische.

Wären Sie manchmal gerne wieder Bundesrat?

(lacht) Nein! Ich habe es 12 Jahre lang gerne gemacht. Aber was man in 12 Jahren nicht schafft, gelingt einem auch im 13. nicht. Ich bereue nichts und bin froh, jetzt etwas anderes zu tun.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Tagesgespräch, 07.11.2025, 13 Uhr ; 

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