Darum geht es: Seit ihrer Machtübernahme im August haben die militant-islamistischen Taliban in Afghanistan mehr als 100 ehemalige Soldaten, Polizisten und Geheimdienstler verschwinden lassen oder exekutiert – obschon die Talibanführung Amnestie für alle versprochen hatte. Das steht in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Darin werden Fälle aus den Provinzen Gasni, Helmand, Kandahar und Kundus dokumentiert. Bei den Opfern handelt es sich um ehemalige Regierungskräfte, die sich den Taliban ergeben hatten. Der Bericht stützt sich auf Zeugenaussagen und Interviews vor Ort.
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Das steckt dahinter: «Untersucht wurden nur jene vier Provinzen, die am stärksten umkämpft waren und in denen es wohl auch jetzt noch die grössten Animositäten zwischen Taliban und ehemaligen Regierungskräften gibt», sagt SRF-Südasienkorrespondent Thomas Gutersohn. Unklar bleibe, ob es sich bei den Übergriffen um persönliche Racheakte von lokalen Taliban handelt oder ob das Vorgehen einer Strategie der Talibanführung folge.
So reagieren die Talibanführer: Die Taliban in Kabul haben die Vorwürfe von HRW bestritten. «Das ist die gängige Reaktion, wenn sie angegriffen werden», sagt Gutersohn. Eigentlich verfügen die Taliban aber über ein Untersuchungsinstrument, um den Vorwürfen nachzugehen: Im September setzten sie eine sogenannte Menschenrechtskommission ein, die Verbrechen aller Art untersucht. «Diese müsste jetzt aktiv werden», so der Korrespondent. Bislang habe sich die Kommission aber vor allem um Korruptionsfälle oder Diebstahl gekümmert.
Das sind die Folgen des HRW-Berichts: Die Taliban seien jetzt unter Zugzwang, den gut dokumentierten Fällen von Tötungen nachzugehen, sagt Gutersohn. Allerdings sind Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan nichts Neues. Auch gegen den früheren Geheimdienst der Vorgängerregierung gebe es schwere Vorwürfe von Folter und Entführungen, die nie aufgedeckt wurden. «Afghanistan hat eine jahrzehntealte Geschichte an Menschenrechtsverletzungen, die nie aufgearbeitet wurde.» Es wäre ein Novum, wenn jetzt ausgerechnet die Taliban damit anfangen würden.
Auf sich allein gestellt haben die Taliban kein Interesse daran, Menschenrechtsverletzungen aufzuklären.
Das könnte der Westen tun: Zwar halten Länder wie China oder Russland gewisse Beziehungen zu Afghanistan aufrecht – doch Menschenrechte stehen bei beiden Staaten nicht zuoberst auf der Agenda. Der Westen dagegen versucht Afghanistan zu isolieren. So blockieren beispielsweise die USA mehrere Milliarden Staatsvermögen Afghanistans, auf welches die Taliban gerne zugreifen würden. Doch die Druckmöglichkeiten des Westens sind begrenzt. «Ich glaube kaum, dass die Isolationspolitik zielführend sein kann», sagt Korrespondent Gutersohn. Da brauche es ein Umdenken. «Denn auf sich allein gestellt werden die Taliban kein Interesse daran haben, diese Fälle von Menschenrechtsverletzungen aufzuklären.»