SRF News: Woher kommt unser Bedürfnis, das Motiv hinter einer Tat wie dem Massenmord von Las Vegas kennen zu wollen?
Daniel Strassberg: Laut Sigmund Freud teilen wir einen Menschen automatisch ein, wenn wir ihm begegnen. Wir unterteilen ihn in einen Teil, mit dem wir uns identifizieren können, der uns nahe und ähnlich ist, und in einen Teil, der uns fremd ist. Nun sind wir so gepolt, dass uns das Fremde Angst macht. Aber in Tat und Wahrheit ängstigt uns das Ähnliche viel stärker.
Wir haben Angst vor unserem Doppelgänger, wir fürchten, dass der andere genau so sein könnte wie wir – denn dadurch würden wir unsere Individualität verlieren. Deshalb macht uns das Ähnliche Angst. Nun könnte die Tat von Las Vegas – das ist unsere Angst – unsere Tat sein. Deshalb suchen wir nach der Differenz. Wir suchen das, was beim Anderen anders ist und anders sein muss.
Wir wollen uns von unseren eigenen Fantasien der Zerstörung distanzieren.
Geht es also in erster Linie um eine Abgrenzung zum Täter?
Es geht uns darum, uns vom Täter und seiner Tat zu distanzieren. Damit distanzieren wir uns auch von unseren eigenen Fantasien der Zerstörung – sei es etwa gegenüber unserem Chef oder unserer Partnerin – die uns Angst machen. Diese Fantasien hat in Las Vegas jetzt einmal einer verwirklicht. Und dazu müssen wir eine Differenz suchen.
Wie gross muss diese Differenz sein, damit wir uns wieder in Sicherheit wiegen können?
Je grösser die Differenz ist, desto sicherer sind wir. Jemand, der uns völlig fremd ist, ist uns völlig wurst. Nur, wenn jemand Fremdes auch Züge von uns selber trägt, bekommen wir Angst.
Gibt es betreffend der Abgrenzung zu einem Täter Motive, die uns mehr oder weniger einleuchten?
Es gibt sogenannt psychologische Motive, die in der Vergangenheit, der Geschichte des Täters begründet sind. Diese sind für uns sehr plausibel. Im aktuellen Fall betrifft das etwa die Geschichte des Vaters des Attentäters, der ein mehrfacher Bankräuber und damit auch schon ein Verbrecher war. Es gibt also die Idee, dass genetische Faktoren eine Rolle gespielt haben könnten.
Am häufigsten kolportiert werden kulturpessimistische Motive, nach denen eine solche Tat ein Zeichen für eine niedergehende Kultur sei. So hat man etwa gelesen, dass es besonders typisch sei, dass die Tat in Las Vegas verübt worden sei. Diese Motive werden symbolisch mit irgendetwas Universellem, Grösserem aufgeladen. Die kulturpessimistischen Motive scheinen besonders einzuleuchten, obschon sie für mich keine besondere Plausibilität haben.
Es ist ein Unfug, aus einer Tat irgend ein Motiv ableiten zu wollen.
Wie ist die Suche eines Tätermotivs in der Kriminalistik zu bewerten?
Natürlich wollen wir verstehen, wieso ein Mensch so handelt, damit wir es in Zukunft möglichst verhindern können. Die Suche nach einem Motiv in einem Gerichtsverfahren ist eine sehr plausible und rechtsrelevante Angelegenheit. Viel unplausibler und unglaubwürdiger ist dagegen, dass wir Motive erraten.
Wenn ich über das Motiv des Täters von Las Vegas etwas Gesichertes wissen will, müsste ich mit ihm reden. Sonst weiss ich schlicht nicht, welches Motiv er für die Bluttat hatte. Es ist unzulässig und ein Unfug, dass manche meiner Berufskollegen versuchen, aus der Tat ein Motiv abzuleiten. Wir können aus einer Tat schlicht nicht auf ein inneres Motiv schliessen.
Das Gespräch führte Barbara Peter.