Während die USA über das am vergangenen Freitag veröffentlichte brutale Video der Ermordung des 29-jährigen des Afroamerikaners Tyre Nichols durch fünf afroamerikanische Polizeioffiziere diskutieren, beginnt im Bundesstaat Washington heute der Prozess gegen zwei weitere Polizisten, die für den Tod des Afroamerikaners Manuel Ellis im März 2020 verantwortlich gemacht werden.
Tödliche Polizeigewalt ist Alltag in den USA. 2022 starben gemäss der Website «Mapping Police Violence» mindestens 1192 Menschen durch die Hand der Polizei. Das sind drei Tote pro Tag, oder fast 100 pro Monat. Demnach gab es letztes Jahr zwölf Tage, an denen niemand durch die Polizei getötet wurde. Zweieinhalb Jahre nach dem brutalen Tod von George Floyd scheint der damalige grosse Aufschrei, scheint die «Black Lives Matter»-Bewegung, scheinen all die Versuche, Korrekturen anzubringen, nichts gebracht zu haben. Auch die überproportional hohe Zahl an afroamerikanischen Opfern ist gleichgeblieben: 26 Prozent der Opfer von Polizeigewalt sind schwarz, obwohl Afroamerikaner nur 13 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen.
Dabei gibt es auf lokaler Ebene Versuche, die Probleme anzugehen: In Denver rücken bei Notrufen wegen psychischer Probleme nicht mehr Polizeikräfte aus, sondern Notärzte. Dies ist besonders bemerkenswert, denn rund jeder zehnte Polizeinotruf dreht sich um einen Fall, in dem es um psychische Gesundheit geht. Und in fast jedem vierten Fall, der mit tödlicher Polizeigewalt endet, ist eine mentale Krankheit involviert.
Tote nach «routine encounters»
Andere Städte haben Verkehrskontrollen für kleinere Vergehen eingeschränkt. Und Kalifornien hat das unerlaubte Überqueren von Strassen und andere mindere Vergehen entkriminalisiert. Was offenbar wirksam ist, denn die Zahlen von «Mapping Police Violence» zeigen, dass nur in einem Drittel der tödlich verlaufenen Polizeiinterventionen ein mutmassliches Verbrechen vorlag. Die weitaus grössere Zahl davon erfolgte aufgrund sogenannter «routine encounters», also «alltäglicher Begebenheiten».
Die Polizeikräfte in den USA sind in vielen Bereichen anders organisiert, finanziert, trainiert und geregelt als in anderen westlichen Demokratien. Das Land hat etwa rund 18'000 verschiedene Polizeikorps, die auf lokaler, bundesstaatlicher oder gesamtstaatlicher Ebene organisiert sind. Gemäss manchen Experten ist dies eines der Probleme, doch gewichtige Abgeordnete wie etwa der Republikaner Jim Jordan machten am vergangenen Wochenende erneut klar, dass sie eine bundesstaatliche Gesetzgebung weiterhin ablehnen. «Ich sehe kein Gesetz, das solch teuflische Taten stoppen könnte», sagte Jordan gegenüber dem TV-Sender NBC.
Streit im Kapitol
Bereits nach dem Tod von George Floyd wurde im Kapitol ein neues Polizeigesetz diskutiert. Diese Diskussion brach nach der Veröffentlichung des Videos vom Tod Tyre Nichols’ wieder auf.
Doch die Streitpunkte bleiben dieselben: Was geschieht mit der «qualified immunity», der juristischen Doktrin, die Polizeikräfte und andere Staatsangestellte vor juristischer Belangung schützt? Und wie kann man über das Thema diskutieren, ohne gleich eine ganze Rassismusdebatte loszutreten?
Demokratische Abgeordnete haben die Familie von Tyre Nichols nun ins Kapitol eingeladen. Das wird den Druck auf Republikaner wie auch auf Präsident Biden sichtbar erhöhen.