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Nach Freilassung der Geiseln Traumaexperte: «Sie müssen sich an eine neue Realität anpassen»

Einige Frauen und Kinder, welche die Hamas im Gazastreifen während fünf Wochen festgehalten hat, sind nun wieder frei. Was für die Geiseln nach ihrer Rückkehr wichtig ist und wie Angehörige helfen können, erklärt Moshe Farchi, Leiter der Abteilung für Sozialarbeit an der Tel-Hai Hochschule in Israel.

Moshe Farchi

Leiter der Abteilung für Sozialarbeit an der Tel-Hai Hochschule

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Moshe Farchi ist Mitbegründer und Präsident des internationalen Zentrums für funktionelle Resilienz. Er ist unter anderem Experte auf den Gebieten akutes Trauma, psychologische Notfallintervention und psychologische Erste Hilfe (PFA). Er ist derzeit Leiter der Abteilung für Sozialarbeit sowie Gründer und Leiter des Studienprogramms für Stress, Trauma und Resilienz an der Tel-Hai Hochschule in Israel.

SRF: Was ist für die Geiseln nach ihrer Freilassung das Wichtigste?

Das Wichtigste beim Empfang der Geiseln ist es, sie zu ermutigen, so gut wie möglich eigenständig zu agieren. Denn: Je mehr die Person eigenständig handelt, desto kleiner ist das Gefühl der Hilflosigkeit. So sinkt auch das Risiko, dass das Ereignis als Trauma wahrgenommen wird.

Wir wissen praktisch nichts über die Umstände, unter denen sie festgehalten wurden.

Wenn sie zum Beispiel auf dem Weg zu ihren Eltern sind, sollen sie alleine gehen und nicht getragen werden. Wenn sie auf ihre Eltern treffen, sollte ihnen die Wahl gelassen werden, wie sie sich begrüssen. Sie sollen gefragt werden, was sie tun möchten. So können sie Kontrolle zurückgewinnen.

Warum werden die freigelassenen Geiseln nach ihrer Ankunft ins Spital gebracht?

Sie werden in Spitäler gebracht, weil sie medizinisch untersucht werden müssen. Wir wissen praktisch nichts über die Umstände, unter denen sie festgehalten wurden: wie viel Essen sie bekommen haben, wie viel sie schlafen konnten und wie viele Vitamine sie bekommen haben. Mit der medizinischen Untersuchung können wir feststellen, ob es ihnen gut geht.

Sie arbeiten auch mit Familienangehörigen. Was sagen Sie ihnen?

Die Angehörigen müssen die entführten Personen ermutigen, ihr eigenständiges Handeln beizubehalten. Es ist sehr wichtig, sie zu ermutigen, von den wichtigsten Ereignissen ihrer Entführungsgeschichte zu erzählen.

Die Fakten in die richtige Reihenfolge zu bringen, ist der beste Weg, Flashbacks anzugehen.

Je mehr sie über die Geschichte sprechen, desto mehr sprechen sie über die Geschichte in Form von Fakten und weniger in Form von Emotionen. Die Fakten in die richtige Reihenfolge zu bringen, ist der beste Weg, Flashbacks anzugehen.

Wie äussern sich solche Flashbacks?

Die Flashbacks werden sich nicht auf die ganzen fünf Wochen in Geiselhaft beziehen. Flashbacks konzentrieren sich auf kurze Episoden, in denen sie sich bedroht fühlten: zum Beispiel ein Schuss oder ein Schrei, Momente, in denen sie enorm viel Stress empfanden.

Es handelt sich um sehr viele Geiseln. Wie kann man sich vorbereiten, um diesen Menschen zu helfen?

Wir haben einen Plan. Wir wissen, was wir in den ersten drei Wochen tun wollen. Diesen Menschen wollen wir ermöglichen, in ihr früheres Leben zurückzukehren und wie Menschen zu leben, die aktiv und leistungsfähig sind.

Wir wollen ihnen eine aktive Rolle in dem Prozess der Rückholung aller Geiseln geben.

Ein anderer Teil des Plans besteht darin, sie zu befähigen, anderen zu helfen. Dadurch soll das Gefühl des Opferseins und der Hilflosigkeit überwunden werden.

Und: Wir wollen, dass sie so schnell wie möglich fähig sind, uns zu sagen, wie wir den anderen, die noch festgehalten werden, helfen können. Wir wollen ihnen eine aktive Rolle in dem Prozess der Rückholung aller Geiseln geben.

Welche Art von Behandlung bekommen die befreiten Geiseln?

Ich würde nicht unbedingt von Behandlung sprechen, sondern eher von einer Intervention. Wir ermutigen die Familien, dafür zu sorgen, dass die befreiten Personen aktiv sind, dass sie mit Freundinnen und Freunden in Kontakt sind, mit den Haustieren spielen und so weiter.

Diese Menschen müssen sich an die neue, sehr seltsame Realität anpassen.

Der Mensch hat viele Abwehrmechanismen, die in einer solchen Ausnahmesituation aktiviert werden. In diesem Stadium werden wir keine Abwehrmechanismen durchbrechen. Wenn das Kind oder die Erwachsene mit der Situation einigermassen umgehen kann – am Morgen aufsteht und isst – werden wir vorerst nicht intervenieren. Es geht darum, dass sie die Fähigkeit beibehalten, zu ihrer Routine zurückzukehren. Psychotische Reaktionen oder Flashbacks werden wir natürlich behandeln.

Viele von diesen Menschen haben ihr Zuhause und ihre Familie verloren. Da ist keine Routine, zu der sie zurückkehren können.

Diese Menschen müssen sich an die neue, sehr seltsame Realität anpassen. Israel befindet sich jetzt in einem Krieg.

Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass Kinder viel widerstandsfähiger sind als Erwachsene. Daher erwarte ich, dass sie in der Lage sein werden, recht schnell in ihre jeweilige Realität zurückzukehren, während es für Erwachsene viel schwieriger sein wird.

Das Gespräch führten Anita Bünter und Jonas Bischoff.

SRF 4 News, 24.11.2023, 17 Uhr ; 

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