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Nach Gerichtsentscheid zur CHP Opposition in der Türkei gerät zunehmend unter politischen Druck

Nach einem Gerichtsentscheid wurde der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) in Istanbul abgesetzt und durch Gürsel Tekin ersetzt, einen altgedienten Politiker, der einst stellvertretender Vorsitzender der Partei war. Für die Opposition scheint der Entscheid politisch motiviert zu sein und führt zu Tumulten vor der Parteizentrale. Nevin Sungur, freie Journalistin in Istanbul, schätzt den Vorfall ein.

Nevin Sungur

Freie Journalistin

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Nevin Sungur ist eine türkische Journalistin und Kriegsreporterin, bekannt für ihre Einsätze in Afghanistan, im Irak und in Palästina. 2001 berichtete sie als erste Journalistin aus der Festung Cenk in Afghanistan – eine Reportage, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Nach ihrer Anstellung als Produzentin bei SRF von 2017 bis 2023 arbeitet sie heute freiberuflich als News-Producerin in Istanbul.

SRF News: War das Urteil aus Ihrer Sicht juristisch begründet – oder politisch motiviert?

Nevin Sungur: Das Istanbuler Gericht begründete seine Entscheidung mit Unregelmässigkeiten auf dem parteiinternen Kongress. Doch für viele CHP-Mitglieder war das Urteil mehr als nur eine juristische Formsache. Der Parteivorsitzende Özgür Özel sprach von einem «juristischen Staatsstreich» und warnte davor, dass gerichtliche Entscheidungen an die Stelle von Wahlmandaten treten würden.

Für die Anhänger der Oppositionspartei waren die Bilder eine deutliche Erinnerung daran, wie fragil der politische Raum geworden ist.

Die Krise verschärfte sich, als die Polizei anrückte, um die Entscheidung durchzusetzen. Rund um die CHP-Zentrale in Istanbul wurden Barrikaden errichtet, Pfefferspray wurde gegen die Menschenmenge eingesetzt und mindestens eine Person festgenommen.

Protestierende Menschenmenge vor Polizeireihe mit Schilden.
Legende: Demonstrierende versuchen, die Polizeibarrikade zur Parteizentrale der türkischen Oppositionspartei CHP zu durchbrechen. Keystone/Can Ozer

Für die Anhänger der Oppositionspartei waren die Bilder eine deutliche Erinnerung daran, wie fragil der politische Raum geworden ist. Präsident Erdoğan verteidigte die Entscheidung und warnte, dass ein «Strassenchaos» nicht zugelassen werde. Die Regierung besteht darauf, dass der Prozess legal ist und der Staat die Pflicht hat, die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Die Türkei kämpft schon seit Längerem mit Vertrauensproblemen. Werden diese Probleme durch den Vorfall noch verstärkt?

Die Märkte reagierten nervös, was den engen Zusammenhang zwischen politischen Turbulenzen und wirtschaftlicher Unsicherheit verdeutlicht. Das Vertrauen der Investoren in die Türkei ist seit Langem an die Glaubwürdigkeit der Institutionen gebunden. Wenn Gerichtsurteile politisch motiviert zu sein scheinen, wirft dies Fragen zu Berechenbarkeit und Stabilität auf – Bedenken, die über die Innenpolitik hinausgehen.

Welche Folgen werden diese Ausschreitungen für die Oppositionspartei CHP und die Türkei als Staat haben?

Für die CHP besteht eine doppelte Herausforderung darin, die Einheit der Partei zu wahren und gleichzeitig ihre demokratische Legitimität zu verteidigen. Für die Regierung wird es entscheidend sein, sicherzustellen, dass die Gerichtsverfahren als fair wahrgenommen werden, um ihre Glaubwürdigkeit im In- und Ausland zu wahren.

Das Ergebnis wird nicht nur die Zukunft der CHP bestimmen, sondern auch die Entwicklung der türkischen Demokratie im Allgemeinen.

Klar ist, dass es sich bei den Ereignissen dieser Woche nicht um einen unbedeutenden Parteienstreit handelt. Dies ist auch nicht das erste Mal, dass die türkischen Gerichte eine entscheidende Rolle in der Politik spielen. Aber die Absetzung eines gewählten Parteifunktionärs in einer so wichtigen und symbolischen Stadt wie Istanbul wird als besonders bedeutsame Eskalation angesehen.

Sie berührt die Grundlagen des politischen Systems der Türkei: die Rolle der Justiz, die Widerstandsfähigkeit der Legitimität von Wahlen und den Raum für abweichende Meinungen in einer polarisierten Gesellschaft. Das Ergebnis wird nicht nur die Zukunft der CHP bestimmen, sondern auch die Entwicklung der türkischen Demokratie im Allgemeinen.

Tagesschau, 8.9.2025, 19:30 Uhr ; 

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