Die Ausgangslage: Die grösste Oppositionspartei der Türkei, die sozialistische CHP, steht arg unter Druck. Ihr Präsidentschaftskandidat, Ekrem Imamoğlu, ist seit bald 100 Tagen in Haft. Dazu ist am Dienstag eine Grosskundgebung in Istanbul geplant. Bereits am Montag war in der Hauptstadt Ankara ein Prozess gegen CHP-Parteichef Özgür Özel angesetzt, der dann aber kurzfristig auf den 8. September 2025 verschoben wurde. Im Verfahren werfen unzufriedene CHP-Mitglieder Özel Stimmenkauf beim Parteitag im November 2023 vor. Handfeste Beweise für die Schmiergeldzahlungen gebe es aber nicht, erklärt Thomas Seibert, freier Journalist in Istanbul.
Die juristische Situation: Rechtlich sind laut Seibert allerdings alle gesetzlich möglichen Einspruchsfristen längst abgelaufen, da der Parteitag bereits vor zwei Jahren stattfand. Trotzdem habe die türkische Justiz die Anschuldigungen aufgenommen, um den Prozess loszutreten.
So kam es zur Spaltung: Ersetzt würde Özel im Fall einer Verurteilung vermutlich durch Ex-Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu. Dieser hatte sich von den aktuellen Vorwürfen aus seinem Umfeld gegen Özel nie distanziert, was zu einer Spaltung in der Partei führte. Die Mehrheit der CHP steht aber weiterhin hinter Özel. Özel und der inhaftierte Präsidentschaftskandidat Imamoğlu gelten als reformorientiertes Führungsduo der Opposition. Gegen Imamoğlu und elf weitere Personen, die damals die Schmiergeldzahlungen getätigt haben sollen, läuft ein separates Strafverfahren.
Das steht für die CHP auf dem Spiel: Die CHP hat es in den letzten Monaten geschafft, die Regierungspartei AKP von Präsident Erdogan in den Umfragen zu überholen. Alles lief gut, auch wegen der Kampagnen nach der Festnahme vom Präsidentschaftskandidat Imamoğlu. Mit der jetzigen Zerreissprobe könnte es für die CHP tatsächlich ums Überleben gehen, wie Thomas Seibert erklärt. Doch der politische Schaden sei eigentlich schon angerichtet, schätzt Seibert. Mit dem Bild, das die CHP im Moment abgebe, mache sie die Aufbauarbeiten der vergangenen Monate teilweise zunichte.
Das steht hinter den Machtkämpfen: Die CHP ist legendär für ihre internen Machtkämpfe. Zum einen geht es um die Frage, ob die Partei für andere Wählergruppen geöffnet werden oder ob man bei den säkularen Wählerschichten bleiben soll. In diesem Fall bliebe das CHP-Potenzial auf etwa 25 Prozent beschränkt. Eine Öffnung, wie sie Imamoğlu und Özel wollen, könnte die Partei in der Wählergunst bedeutend weiterbringen. Diese Spaltung steht laut Seibert auch hinter dem aktuellen Prozess gegen Özel und hinter dem Machtkampf in der CHP.
Davon profitiert Präsident Erdogan: Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Prozess der Regierung Erdogan sehr lieb ist, wie Seibert schätzt. Möglicherweise hätten sich da auch regierungstreue Staatsanwälte mit besonderem Elan für diesen Prozess eingesetzt. Mit einer allfälligen Schwächung der CHP könnte die Gefahr für Erdogan sinken, die nächste Wahl zu verlieren. Die Rückkehr des vergleichsweise schwachen Ex-Parteichefs Kemal Kılıçdaroğlu wäre laut Seibert ein Riesenvorteil für die Erdogan-Regierung. Denn Erdogan hat Kılıçdaroğlu mehrmals in Wahlen geschlagen.