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Einsatz im Gazastreifen IKRK-Präsidentin: «Eine Geiselübergabe ist kein Uber-Service»

Noch immer sind rund 50 Geiseln in der Hand der Hamas. Israel geht davon aus, dass 20 noch am Leben sind. Was kann das IKRK für diese Geiseln tun? Mirjana Spoljaric, Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), erklärt, warum dem IKRK oft die Hände gebunden sind und wie die Leute vor Ort ihr Leben riskieren.

Mirjana Spoljaric

Präsidentin Internationales Komitee vom Roten Kreuz

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Die frühere Schweizer Spitzendiplomatin und UNO-Cheffunktionärin Mirjana Spoljaric Egger hat am 1. Oktober 2022 als erste Frau das Präsidium des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) übernommen. Sie studierte Philosophie, Wirtschaft und Völkerrecht an den Universitäten Basel und Genf.

SRF News: Israel wirft dem IKRK vor, zu wenig für die Geiseln zu unternehmen. Bis jetzt haben Sie noch keine einzige der Geiseln besucht. Warum nicht?

Mirjana Spoljaric: Kriegsparteien haben gewisse Pflichten. Dazu gehört, uns Zugang zu Kriegsgefangenen und Zugang zu den Geiseln zu ermöglichen, aber auch die Verpflichtung, die Geiseln bedingungslos freizulassen. Wir können das aber nicht erzwingen, wir sind nur der humanitäre Mittler in der Situation.

Wenn die Hamas nicht will, haben Sie keine Handhabe?

Genau. Wenn die Hamas «Nein» sagt, haben wir keine Handhabe. Wenn Israel sagt, «ich will keine humanitären Güter liefern», haben wir auch wenig bis gar keine Handhabe. Das ist das Problem. Wir sind aber der Akteur, der die Geiseln sicher zurückbringen kann, wenn eine Vereinbarung zustande gekommen ist. So konnten wir bereits über 140 Geiseln sicher zurückbringen.

Zwei Personen umarmen sich vor einem Geländewagen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
Legende: Eine befreite israelische Geisel wird vom Roten Kreuz an das israelische Militär übergeben. (30.1.2025) Reuters / Israel Defense Forces

Die Übergaben der Geiseln hat die Hamas als Propaganda-Show missbraucht. Warum konnten Sie das nicht verhindern?

Wir haben interveniert, es hätte noch schlimmer kommen können. Aber: Wir sind nicht zufrieden und haben das auch öffentlich kritisiert. Für uns ist dennoch zentral, dass die Geiseln befreit werden und nach Hause können. Dann nehmen wir auch in Kauf, dass wir international kritisiert werden für gewisse Bilder, die missbraucht werden.

Tatsache ist, dass wir machen, was wir können, und es einfach nicht genug ist.

Solche Freilassungen sind unglaublich komplizierte Operationen. Sie werden simuliert und über Wochen geübt. Das bedarf einer engen Zusammenarbeit sowohl zwischen uns und der Hamas als auch zwischen uns und Israel. Das machen Sie nicht von heute auf morgen. Eine Geiselübergabe ist kein Uber-Service. Die Leute, die daran beteiligt sind, riskieren ihr Leben.

Hat das IKRK in Gaza auch Fehler gemacht?

Wir haben gemacht, was wir machen können. Wir haben Kollegen verloren, Kollegen sind verletzt worden, zum Teil, als sie versuchten, ihre toten Kollegen zurückzuholen, um sie zu beerdigen.

Alles ist plötzlich erlaubt und man kann morgen sein Wort brechen.

Ich war selbst zweimal im Gazastreifen seit dem 7. Oktober. Ich habe gesehen, unter welchen Gefahren wir dort arbeiten. Ich weiss nicht, ob man da noch davon reden kann, ob wir etwas richtig oder falsch gemacht haben. Tatsache ist, dass wir machen, was wir können, und es einfach nicht genug ist.

Das humanitäre Völkerrecht gerät allgemein unter Druck. Sie sagen, wir seien in einem Wettlauf hin zu einem moralischen Tiefpunkt. Wie meinen Sie das?

Ich stelle fest, dass eine Aushöhlung des Normativen insgesamt stattfindet, also eine Abkehr vom Grundkonsens, dass wir unser Handeln auf der Basis von Recht gestalten. Alles ist plötzlich erlaubt und man kann morgen sein Wort brechen.

«Ein Mann, ein Wort» – diese Aussage gilt heute nicht mehr. Die junge Generation, wie meine Kinder, kann sich nicht vorstellen, dass diese Haltung mal grundlegend war, aufgrund dessen, was sie jeden Tag in der Zeitung lesen oder im Internet finden. Das macht mir Sorgen.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Tagesgespräch, 11.8.2025, 13 Uhr ; 

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