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Nahostkonflikt dominiert «Kriegsmüdigkeit in der Ukraine ist stark spürbar»

Die freie Journalistin Daniela Prugger hält sich zurzeit in Mykolajiw, im Süden der Ukraine, auf. Einerseits wird auch dort befürchtet, dass die internationale Hilfe an die Ukraine zugunsten der Nahostkrise reduziert werden könnte. Anderseits sind die Menschen solidarisch mit Israel, wie Daniela Prugger sagt.

Daniela Prugger

freie Journalistin in Osteuropa

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Daniela Prugger berichtet als freie Journalistin aus Osteuropa und aus der Ukraine. Derzeit lebt sie in Kiew. Die gebürtige Italienerin berichtet von dort unter anderem für den «Standard».

SRF News: Wie gehen die Menschen in und um Mykolajiw damit um, dass der Nahostkonflikt den Krieg in ihrem Land aus dem Blick des Westens verdrängt?

Daniela Prugger: Zunächst muss man sagen, dass die Solidarität mit Israel in der Ukraine gross ist, auch wenn Israel der Ukraine seit Kriegsbeginn keine Militärhilfe geleistet hat. Zum Beispiel wurden in Kiew die Flaggen Israels gezeigt. Der ukrainische Präsident Selenski hat von Anfang an Vergleiche zwischen der Gewalt in Israel und dem russischen Angriffskrieg gegen sein eigenes Land gezogen.

Die Angst, dass die Aufmerksamkeit aus dem Westen zurückgeht, gab es schon vor den Ereignissen in Israel.

Er hat auch festgehalten, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen. Die Angst, dass die Aufmerksamkeit aus dem Westen zurückgeht, gab es schon vor den Ereignissen in Israel. Dies ist eine offensichtliche Angst in weiten Teilen der Bevölkerung, weil die Menschen genau wissen, wie sehr sie von der Unterstützung der westlichen Partner abhängig sind, sowohl finanziell als auch militärisch und humanitär.

Wie gross ist die Angst der Menschen, dass ein möglicher Krieg in Nahost dazu führen könnte, dass die Ukraine weniger Hilfe erhält?

Die Kämpfe in der Ukraine gehen unvermindert weiter. Für die Menschen hier ist der Krieg im eigenen Land das dominierende Thema. Andererseits weiss eben jeder, was es bedeutet, in einem Kriegsgebiet zu leben. Ich habe mich hier mit Menschen unterhalten, die ausserhalb von Mykolajiw in kleineren Dörfern leben. Erst mussten sie unter Besatzung leben und dann waren sie von der Flut betroffen. Ich würde sagen, dass diese Angst derzeit eher von politischer Seite und den ukrainischen Medien geäussert wird.

Die Angst, dass es weniger Hilfe aus dem Westen für die Ukraine gibt, ist vor allem bei Politikerinnen und Politikern gross?                   

Genau. Auch Präsident Selenski hat dies immer wieder betont, zum Beispiel auch in Brüssel nach Bekanntwerden der Übergriffe auf Israel.

Diese Angst ist gross, selbst wenn US-Präsident Biden immer wieder betont, dass die USA der Ukraine weiterhin beistehen.

Es gibt eine bestimmte Menge an militärischer Unterstützung vor allem aus den USA, die man hoffentlich nicht mit einem anderen Land teilen muss. Aber diese Angst ist gross, selbst wenn US-Präsident Biden immer wieder betont, dass die USA der Ukraine weiterhin beistehen.

Bauarbeiter in Aktion
Legende: Mancherorts kann mit dem Wiederaufbau begonnen werden. An andern Orten nicht, weil der Krieg immer noch in der Nähe tobt. Keystone/Sergey Kozlov

Der Krieg gegen die Ukraine ist in den letzten zwei Wochen etwas aus den Schlagzeilen verschwunden. Wie geht es den Menschen in Mykolajiw zurzeit?

In Mykolajiw befinden wir uns relativ nahe an am Oblast Cherson, auch am Dnepr, an dem Fluss, der die Frontlinie markiert. Das heisst, die Kampfhandlungen finden relativ nahe statt. In den Dörfern, in denen ich war, steht den Menschen ein weiterer harter Winter bevor. Wenn man mit den Menschen spricht, dann wird klar, dass sie müde und erschöpft sind. Sie wollen, dass das alles aufhört. Das ist etwas, was mir im Unterschied zum Jahr vorher auffällt.

Sicher wollen die Menschen nicht, dass die Ukraine aufgibt. Aber Kriegsmüdigkeit ist schon klar spürbar. In manchen Gegenden ist die Wasserversorgung immer noch nicht hergestellt worden. Und in manchen Orten kann mit dem Wiederaufbau nicht begonnen werden, weil die Kampfhandlungen in unmittelbarer Nähe stattfinden. Und wirklich alle, mit denen ich gesprochen habe, die sind darauf eingestellt, dass dieser Krieg noch sehr lange dauert.

Das Gespräch führte Vera Deragisch.

SRF 4 News, 25.10.2023, 6:45 Uhr ; 

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