In Nordnorwegen finden derzeit unter dem Namen «Cold Response» die grössten Arktis-Manöver der Nato seit Jahrzehnten statt: mit mehr als 30'000 Soldatinnen und Soldaten aus 27 Ländern. Trotz konkurrierender wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen galt der Nordpolarraum bisher als friedliche Weltregion. Doch das könnte sich nach der russischen Invasion in die Ukraine rapide ändern. SRF sprach darüber mit dem norwegischen Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre.
SRF News: Fürchten Sie, dass der hohe Norden nun sozusagen zum Kollateralschaden des russischen Einmarschs in die Ukraine und der geopolitischen Spannungen wird?
Jonas Gahr Støre: Noch ist der Norden eine Weltregion mit niedrigen Spannungen. Das haben wir erreicht, Norwegen und die Nato, indem wir berechenbar bleiben. Alle wissen, was wir tun und was wir beabsichtigen. Norwegen ist ein direkter Nachbar Russlands, mit dem wir seit tausend Jahren in Frieden leben. Aber wir sind zugleich Nachbarn eines der grössten Nuklear-Arsenale der Welt, das sich nur fünfzig Kilometer von unserer Grenze entfernt in Russland befindet. Das verlangt Aufmerksamkeit. Wir müssen auf alles gefasst sein.
Wir möchten weiterhin Spannungen vermeiden. Aber wir brauchen eine Verteidigung, die sich der Entwicklung im hohen Norden anpasst.
Was heisst das für Norwegens Verteidigung?
Wir möchten weiterhin Spannungen vermeiden. Aber wir brauchen eine Verteidigung, die sich der Entwicklung im hohen Norden anpasst. Wir sind hier auch die Augen und die Ohren der Nato. Das wird künftig noch wichtiger sein.
«Cold Response» ist das grösste Nato-Manöver in dieser Weltgegend. Welches politische Signal wollen Norwegen und die Nato damit aussenden?
Wir führen alle zwei Jahre solche Manöver durch. Die jetzigen wurden bereits vor dem Krieg in der Ukraine geplant. Doch gerade dieser Krieg zeigt, dass Norwegens Sicherheit einerseits auf unseren eigenen militärischen Anstrengungen beruht und andererseits auf unserer Fähigkeit, mit den Truppen der Nato-Alliierten zusammenzuarbeiten – hier in den Fjorden, in den Bergen, im rauen Winter. Das Typische an diesen Manövern ist, dass sie in einem Klima und in einer Umgebung stattfinden, die wir in Norwegen und Sie in der Schweiz bestens kennen, aber die für viele Nato-Verbündete fremd sind.
Viele Nato-Länder erhöhen derzeit ihre Verteidigungsausgaben erheblich – tun Sie das in Norwegen auch?
Wir heben sie bereits in diesem Jahr an. Und nun müssen wir gründlich analysieren, was weiter nötig ist. Deshalb schliesse ich eine neuerliche Erhöhung nicht aus.
Bei der Kooperation im Nordpolarraum spielt der Arktis-Rat eine Schlüsselrolle. In ihm sind neben Norwegen auch Schweden, Finnland, Dänemark, Island, die USA, Kanada und vor allem auch Russland vertreten. Doch gleich nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde jegliche Tätigkeit suspendiert. Ist jetzt der Arktis-Rat dem Untergang geweiht – oder sehen Sie noch eine Chance, dieses entscheidende Organ der Zusammenarbeit zu retten?
Das muss unsere Vision, unser Ziel sein. Denn der Arktis-Rat behandelt bedeutende gemeinsame Anliegen aller Arktis-Anrainerländer und zahlreicher Beobachterstaaten. Wir müssen aufpassen auf die Arktis, ihr Sorge tragen. Sie ist sehr rau und gleichzeitig sehr verletzlich. Der Klimawandel wird hier besonders deutlich. Es geht um den Schutz von Fischbeständen, um die Nutzung von Ressourcen. Es braucht Kooperation. Deshalb müssen wir dem Arktis-Rat Sorge tragen.
… da zeigt sich aber, dass der Krieg in der Ukraine direkte Auswirkungen bis hier in den hohen Norden hat…
Ein Krieg hat ganz offensichtlich Konsequenzen für das Vertrauen und die Beziehungen zwischen Regierungen. Derzeit haben wir weitaus weniger Kontakte zu Bürgerorganisationen in Russland als früher, weil diese von Moskau seit Jahren in wachsendem Masse eingeschränkt werden. Und auch die Kontakte zur russischen Regierung sind auf ein Minimum reduziert, Kontakte zu einem Regime also, das immer autoritärer geworden ist. Dieser zunehmende Mangel an Kontakten ist eine sehr schlechte Entwicklung.
Ich bin froh, dass wir damals diese Chance genutzt haben.
Vor zwölf Jahren gelang es Norwegen, mit Russland ein historisches Abkommen auszuhandeln zur Aufteilung der Barentssee. Glauben Sie, so etwas wäre heute überhaupt noch möglich?
Ich habe damals diese Verhandlungen geleitet. Es bestand gerade eine günstige Gelegenheit, die wir nutzten, um mit Russland ein Abkommen zu schliessen, das zur einvernehmlichen Aufteilung eines Territoriums von 170'000 Quadratkilometern führte. Diese Art von Verhandlungen wäre heute sehr schwierig. Es braucht dazu ein Minimum an Vertrauen und gute Beziehungen über die Grenzen hinweg. Ich bin froh, dass wir damals diese Chance genutzt haben.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger