Brexit is done – zumindest fast. Grossbritannien muss bis Ende Jahr seine Beziehung zur EU neu regeln. Eine der Fragen wird sein, wer in Zukunft aus der EU ins Land einreisen darf – denn auch die Personenfreizügigkeit endet Ende Dezember. Am Mittwoch hat die britische Regierung dargelegt, wie sie sich ein neues Einwanderungsgesetz vorstellt. Ziel dieses Gesetzes: Es sollen weniger Geringqualifizierte ins Land einreisen, dafür sollen Fachkräfte gezielt angelockt werden.
SRF News: Wie soll dieses Punktesystem funktionieren?
Martin Alioth: Es gibt drei obligatorische Kriterien. Der Bewerber muss ein Stellenangebot im Vereinigten Königreich vorlegen, das gibt 20 Punkte; er muss relevante Qualifikationen vorlegen, weitere 20 Punkte; und er muss über Englischkenntnisse verfügen. Zusammengerechnet gibt das 50 von nötigen 70 Punkten. Weitere gibt es für ein Salär von umgerechnet über 2700 Franken pro Monat, ein Doktorat oder einen Arbeitsplatz in einer Branche mit besonders knappen Arbeitskräften.
Wenn weniger Niedrigqualifizierte ins Land kommen – wer macht dann deren Arbeit?
Die Regierung sagt, die britischen Arbeitgeber müssten eben umdenken und mehr in Automatisierung oder in die Weiterbildung ihrer bestehenden Angestellten investieren. Aber manche Branchen haben sehr gereizt reagiert, etwa die Nahrungsmittelverarbeitung, das Gastgewerbe oder das Transportwesen. Aber vor allem auch die Altenpflege, die bereits jetzt einen riesigen Personalmangel aufweist und sehr geringe Löhne zahlt.
Die britische Wirtschaft ist ausserordentlich unproduktiv und das seit Jahren.
Wenn diese Branchen in Zukunft nicht mehr auf billige Arbeitskräfte aus dem Ausland setzen können – könnte das zu einer Verbesserung der Löhne führen und diese Stellen attraktiver machen?
Das ist die Hoffnung der Regierung, wobei ich nicht sicher bin, ob das ihre Motivation für das Migrationsgesetz ist. Aber es stimmt: Die britische Wirtschaft ist ausserordentlich unproduktiv und das seit Jahren. Dies, weil Arbeitgeber in billige Arbeitskräfte investieren, die sie leicht wieder loswerden können, wenn das Geschäft nicht so gut läuft – anstatt in Maschinen, Anlagen oder Roboter zu investieren. Die Investitionen sind seit der Brexit-Abstimmung 2016 auf einem Tiefpunkt. Das müsste sich ändern, wenn billige Arbeitskräfte weniger leicht verfügbar wären.
Ein Wegkommen von der Abhängigkeit von billig en Arbeitskräften aus dem Ausland braucht also Zeit.
Ja. Ein solches System in zehn Monaten aufzubauen ist das Eine. Aber das Malaise der britischen Wirtschaft erfordert nicht eine neue Einwanderungspolitik, sondern eine neue Bildungspolitik, die sich auf Fachkräfte konzentriert.
Künftig gelten für alle Einwanderer die gleichen Regeln. Wird das die Zusammensetzung der Migrationsbevölkerung verändern?
Diese Entwicklung ist sogar bereits im Gange. Seit der Brexit-Abstimmung ist die Zahl der Netto-Einwanderung aus der EU praktisch schon auf Null gesunken, weil zahlreiche bestehende EU-Bürger Grossbritannien verlassen haben. Und das wird in Zukunft stärker werden, während die Einwanderung von ausserhalb der EU in den letzten Jahren zugenommen hat. Die Netto-Einwanderung insgesamt, die während des Referendums ein Streitpunkt war, ist also nur leicht zurückgegangen. Es ist fraglich, ob dieses neue System die Zahlen insgesamt wirklich senken wird.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.