Darum geht es: Ukrainische Ermittler haben ein korruptes Netzwerk aufgedeckt rund um den Atomenergiekonzern Energoatom. Die kriminelle Gruppe soll Bestechungsgelder von über 100 Millionen Dollar umgesetzt haben. Im Zentrum der Ermittlungen: Timur Mindich, ein früherer Geschäftspartner des Präsidenten Wolodimir Selenski, der in der Medienbranche tätig ist. Heute werfen die ukrainischen Ermittlungsbehörden Mindich vor, ein Bestechungsnetz aufgebaut zu haben.
Rolle von Selenski: Es brauche Massnahmen gegen die Korruption. Das hat Selenski in einer Videobotschaft erklärt. Alle, die an den Machenschaften beteiligt waren, müssten mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Aber noch im Sommer wollte Selenski ein Gesetz durchbringen, das die Unabhängigkeit der Korruptionsermittler beschnitten hätte. Schlussendlich zog der Präsident das Gesetz wieder zurück. Jetzt versuche er, das Ganze umzudrehen: «Aber er macht im Moment keine gute Falle», sagt SRF-Korrespondentin Judith Huber. Auch in Bezug auf internationale Unterstützung dürften diese Fälle Selenski schaden: «Es steht die Frage im Raum, ob das Geld richtig eingesetzt wird. Das ist genau das Bild, das Russland mit seiner Propaganda von der Ukraine erzeugen will.»
Widerstand in der Bevölkerung: Selenskis Gesetzesänderung im Sommer löste in der Ukraine die grössten Proteste seit Kriegsbeginn aus. Selenski sah sich gezwungen, das geplante Gesetz zurückzuziehen. Der Widerstand sei wichtig gewesen: «Die Ermittler hätten diesen aktuellen Fall wohl nicht so aufdecken können, wenn sich im Sommer nicht die Zivilgesellschaft eingemischt und demonstriert hätte», so Huber. Die Menschen in der Ukraine hätten lange dafür gekämpft, ein demokratisches Land mit funktionierender Gewaltenteilung zu werden, «das macht die Ukraine für sie aus und dafür kämpfen sie bis heute auch an der Front».
Ursachen der Korruption: Korruption ist in der Ukraine nichts Neues. Im letzten Korruptions-Wahrnehmungsindex von Transparency International landet die Ukraine auf Platz 105 von 180. Zwar rückte sie in den letzten 10 Jahren einige Plätze nach vorne – trotzdem befindet sich das Land noch immer auf der hinteren Hälfte der Liste. Das sei eine Hinterlassenschaft der Sowjetzeit, sagt SRF-Korrespondentin Huber. «Korruption war die Währung, mit der man sich Macht und politische Loyalität erkaufen konnte.» Die Ukraine ist nicht der einzige Staat in Osteuropa, der mit diesem Vermächtnis kämpft. Huber betont, dass das Land in den letzten Jahren viel gegen die Korruption unternommen und Fortschritte gemacht hat. «Die Korruptionsermittlungen funktionieren, sonst hätten sie diesen Skandal jetzt nicht aufdecken können – aber das ist offenbar noch nicht genug.»
Ausblick: Die Situation dürfte sich laut Huber so schnell nicht ändern: «Das Land ist geschwächt, die Zivilgesellschaft und die Medien mit anderen Themen beschäftigt.» Eigentlich möchte die Ukraine ja der EU beitreten, das Land hat kurz nach dem russischen Einmarsch die Mitgliedschaft beantragt. Aber eine wichtige Bedingung der EU ist eben die Eindämmung der Korruption. «Selenski muss begreifen, dass er gegen Korruption vorgehen muss – auch im eigenen Umfeld.» Da brauche es auch den Druck der EU und der internationalen Partner. «Denn es geht um viel mehr als um Korruption, nämlich ums Überleben der Ukraine und die Sicherheit Europas.»