Dienstagabend, vor Sonnenuntergang, am Hafen von Beirut: ein paar Dutzend Frauen, Männer und Kinder, viele schwarz gekleidet, versammeln sich mit Bildern ihrer Angehörigen. Vor genau neun Monaten kamen diese in der verheerenden Explosion um, die ganze Quartiere der libanesischen Hauptstadt verwüstete.
Die Szene hat etwas Apokalaptisches: auf der einen Seite stehen die riesigen, komplett zerstörten Silos des nationalen Getreidespeichers. Auf der anderen Seite Hochhäuser ohne Fenster: man sieht die heruntergestürzten Decken der einzelnen Wohnungen, das zerstörte Mobiliar. In Richtung einer dieser Wohnungen schaut ein Mann mit schütterem Haar und einer Corona-Maske. Er hält einen grossen, verzierten Bildrahmen. Auf dem Bild: eine junge Frau mit langem braunen Haar, die versunken lächelt.
«Das ist Nicole, sie war 25 Jahre alt,» sagt ihr trauernder Vater, Magid Helou. Er erzählt, dass sie Karriere in einer Bank machen wollte. Und zeigt auf eines der schwer beschädigten Häuser auf der gegenüberliegenden Strassenseite. «Sie trank dort im ersten Stock mit ihrem Freund einen Café, als die Explosion geschah.» Magid Helous Tochter hatte keine Chance. Für ihren Tod macht ihr Vater die Politiker verantwortlich.
«Alle wussten, dass im Hafen Ammoniumnitrat gelagert wird», sagt er. Gehandelt habe keiner. Bevor er weiterreden kann, passieren zwei Sachen gleichzeitig: Eine Gruppe der Trauernden beginnt sich über Hassan Nasrallah zu streiten, den Chef der radikalislamischen Hisbollah: die einen geben der schwerbewaffneten Hisbollah-Miliz schuld an der Explosion, ein Hisbollah-Anhänger wehrt sich vehement gegen die Vorwürfe.
Und in dem Moment giessen ein paar Christen Öl ins Feuer, indem sie in einem Fahrzeug mit lauter Musik und einer grossen Maria-Statue vorfahren.
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Bild 1 von 4. Über 200 Menschen kamen bei der verheerenden Explosionskatastrophe am 4.8.2020 in Beirut ums Leben. Angehörige der Todesopfer verlangen bei einem Protest, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Bildquelle: Susanne Brunner/SRF.
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Bild 2 von 4. Angehörige von Opfern der Explosionskatastrophe von Beirut versammeln sich beim Hafen. Die libanesische Armee ist präsent, um Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen konfessionellen Gruppen zu verhindern. Bildquelle: Susanne Brunner/SRF.
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Bild 3 von 4. Der Hafen von Beirut genau neun Monate nach der Explosionskatastrophe: Vor wenigen Tagen liess Deutschland Giftstoffe abtransportieren, die zu weiteren Explosionen hätten führen können. Libanons Politiker ringen derweil noch immer um eine neue Regierung. Bildquelle: Susanne Brunner/SRF.
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Bild 4 von 4. Die Gebäude direkt gegenüber des Hafens von Beirut sehen grösstenteils noch gleich aus wie nach der Explosion vor neun Monaten. Bildquelle: Susanne Brunner/SRF.
Ein Teil der Trauernden versucht die Streitenden zu beschwichtigen, und gibt den Leuten auf dem Jungfrau Maria-Mobil ein Zeichen, wegzufahren. Es dauert jedoch einen Moment, bis alle zum eigentlichen Zweck des Protests und der Gedenkfeier zurückkehren: den Getöteten der Explosionskatastrophe zu gedenken und Ermittlungen zu fordern.
Niemand will verantwortlich sein
«Wir wollen die Verantwortlichen im Gefängnis sehen!» ruft eine Rednerin. Der Schluss ihrer Rede geht in der Musik unter, die aus dem Fahrzeug mit der Mariastatue dröhnt. Die Gruppe, die sich wegen der Hisbollah gestritten hat, hat sich indessen beruhigt. Magid Helou hat nur noch einen Kommentar: «Sie sind alle schuld an diesem Verbrechen». sagt er.
Neun Monate nach der Explosionskatastrophe streiten sich die Führer der verschiedenen konfessionellen Parteien noch immer um die Bildung einer neuen Regierung – Verantwortung für die Explosionskatastrophe will – wie so oft in Libanon – niemand übernehmen.